Georg Dekas
TIROLISCH IST SPRACHE
Hannes Rabensteiner (STF) hat mit seinem mundartlichen Reden im Südtiroler Landtag nichts falsch gemacht außer eines: er nennt seine tirolische Muttersprache „Dialekt“ und nicht Sprache. Er sagt „Dialekt“, weil alle so sagen, wenn jemand tirolisch spricht. Aber eigentlich müssen wir umdenken.
Wenn der Mensch ein geselliges Lebewesen ist (zoon politikon, Aristoteles) und dieses Lebewesen durch die die Sprache erst zum Menschen wird, dann ist Sprache in höchstem Maß politisch. In einem demokratisch gewählten Parlament sind daher die real exisitierenden Sprachen nicht allein nach den Regeln und Begriffen der Sprachlehre zu messen: Vielmehr zählt der politische Wille und die repräsentierte Identität der Stimmbürger. Was für Linguisten ein Dialekt sein mag, ist politisch gesehen eine Sprache und in Südtirol noch mehr: Es ist die Muttersprache. Gut, uns fehlt noch eine einheitliche Rechtschreibung, eine kleine Grammatik und ein Tiroler „Duden“, aber sonst ist alles da, was Sprache ausmacht in den organisch gewachsenen und eigenständigen Sprachen der Tirolerinnen und Tiroler, die da sind das (ursprüngliche) Ladin und das (bairische) Tirolerdeutsch. Das Tiroleritalienisch, die dritte gewachsene Landessprache, ist in das uniformierte Italienisch übergegangen.
In der Sache Dialekt/Landtag/Rabensteiner hat „Dolomiten“-Co-Chef Günther Heidegger in Kürze und Würze alles Wesentliche gesagt („Dolomiten“, 18 dez 24 Titelseite – und auch der Leserbrief von Josef Perkmann aus Lana in derselben Ausgabe ist bemerkenswert).
Sprache ist Macht
Ich will im Folgenden auf die politische und kulturgeschichtliche Seite eingehen, um den Stand des Tirolischen im öffentlichen Bereich besser auszuleuchten. Kulturell ist Südtirol ohne Zweifel eine Brücke zwischen Nord und Süd, zwischen Deutsch und Romanisch, und so gesehen ein beneidenswerter Fleck und ein spannendes Labor für neue Lebens- und Ausdrucksformen. Politisch gesehen liegt die Sache anders. Schuld ist der scharfe, latent bis manifest deutschfeindliche Nationalismus, der bei den Italienern vorherrscht. Dieser dominiert selbst die kleinste Alltagspolitik bis hinein in die äußersten Haarspitzen. Aktuelle Beweise sind der von Julia Unterberger (SVP) monierte Sager eines Radiomoderators (hier) genau so wie der Vorstoß, in Meran alle Namensschilder umdrehen zu wollen, nur weil sich die ethnische Zusammensetzung in der jüngsten Volkszählung um einige Zehntelprozent verschoben hat (hier). Diese chauvinistische Haltung zu Sprache und Staat ist eine gänzlich andere als die im deutschen Sprach- und Kulturraum, zu dem Südtirol seit gut 1.200 Jahren gehört.
„Bodenmeliorierung“ für Monokulturen
Die deutschen Hauptsprachen folgen einer anderen Logik als es die politisch relevanten Sprachen Italienisch und Französisch tun. Das Deutsche ist lokal und organisch gewachsen, gewissermaßen ökologisch, ja fast schon bio, dazu gleich mehr. Das Italienische hingegen ist nach französischem Vorbild zur normierten Einheitssprache des Staates mit einem absoluten und universellen Monopol-Anspruch gemacht worden. Diese beiden romanischen Sprachen folgen dem Diktat des politischen Unitarismus, der in Wirtschaft und Gesellschaft so etwas ist wie die Bodenmeliorierung bei unseren Obst- und Weinbauern. Um industriell effizient anzubauen, muss der Boden planiert und alle Unebenheiten, Steine und Gebüsch beseitigt werden. Frankreich hat mit dieser Flächenbereinigung zum Zweck der Monokultur schon 1635 (Gründung der Académie Française) angefangen und das ganze Königreich auf eine einzige Sprache ausgerichtet. Die Einheitssprache „Französisch“ war eine wesentliche Voraussetzungen für den vorbildlichen Aufschwung Frankreichs, keine Frage. Napoleon Bonaparte hat Italien den Zentralstaat als Monokultur verpasst. Das haben die Italiener begeistert von den Franzosen abgeschaut und sind flugs daran gegangen, ihren Stiefel politisch wie sprachlich zu säubern. Benito Mussolini und sein Unterrichtsminister Gentile haben dann die „Bodenmeliorierung“ gründlich abgeschlossen.
Italienisch ist „national“
Heute empfinden die Italiener Sprache und Staat als identisch („La Nazione“, sagt die Meloni mit einem großen „N“). So erfolgreich dieses Rezept ist, so wenig darf der Staat Italien sich anmaßen, die italienische Sprache als sein Monopol zu betrachten. Italienisch ist mehr. Italienisch hat hunderte von Varietäten, es eine der vier Landes- und Amtssprachen der Schweiz, es ist Staatssprache in San Marino und im Vatikan, und wäre Südtirol ein eigenständiger Staat, wäre Italienisch eine der drei Landessprachen. Aber Italien denkt und empfindet halt „national“. Gestärkt durch die Schule des Faschismus (Gentile) hält der gelernte Italiener alle volkstümlichen Varianten („Dialekte“) für unrein, rückständig, provinziell. Im schlimmsten Fall für unpatriotisch und „sezessionistisch“ (siehe die Bossi-Lega!). Hinzu kommt noch der unterschwellige Deutschenhass vieler nationaler Italiener. Deshalb verachten diese unser Tiroler Deutsch zutiefst.
Deutsch ist Bio
Ganz anders die deutschen Lande. Unter dem großen Mantel des Kaisers im tausendjährigen „Heiligen Römischen Reich“ haben sich die Völker ziemlich eigenständig gemacht. Die deutschen Schweizer haben sich sehr früh und erfolgreich vom Reich abgespaltet. Später folgten nach und nach die anderen, bis zum heutigen Dreieck D-A-CH. In allen deutschen politischen Gebilden der Geschichte war der Weg zur Einheitssprache ein ökologischer. Um die Verkehrs- und Schriftsprache sicherzustellen, genügte neben dem etablierten Latein zunächst die deutsche Kanzleisprache, die maßgeblich durch die Reformation des 16. Jahrhunderts geprägt wurde. Aber der deutsche Sprachraum war riesig und politisch sehr artikuliert. Die Österreich-Kaiserin Maria Theresia erwog sogar die Schaffung einer Süddeutschen Amtssprache mit eigener Grammatik, so sehr hatten sie die Siege des Preußenkönigs Friedrich geärgert, sie zog dieses Ansinnen jedoch zurück. Tatsache ist, dass in den Königreichen Sachsen, Bayern, Preußen und im Kaisertum Österreich (um einige Beispiele aus dem 19. Jahrhundert zu nennen) die gewachsenen Landessprachen dem jeweiligen Vaterland nicht nur seine eigene, unverwechselbare Identität gaben, sondern auch gepflegt und wertgeschätzt wurden. Sicher, der Adel und das Großbürgertum konversierten bis zum Ende des Ersten Weltkrieges gerne auf Französisch, und das Bürgertum pflegte mit Liebe das Deutsch der Pastoren und Dichter. Das Volk aber, – die Handwerker, Kaufleute, Bauern und Arbeiter – , das sprach und spricht bis heute sächsisch, schwäbisch, platt, bairisch. Die Hochsprache oder Standardsprache wird allenthalben problemlos bis meisterhaft gebraucht, aber die lokaltypische Färbung ist in allen deutschen Landen unüberhörbar – bis heute.
Der Mussolini-Gap
In Südtirol ist das harmonische Ineinanderfleißen von Hochsprache und Landessprache leider nicht der Fall. Das hat eine schmerzhafte, gar nicht weit zurückliegende Ursache. Die traumatische Abtrennung Südtirols von Österreich ab 1918 und die Unterdrückung alles Deutschen und Tirolischen durch die Italiener im Faschismus hat die natürliche Sprachentwicklung in unserem Land jäh gestoppt. Mit dem Verbot der deutschen Schule ging auch das Tirolische in den Untergrund. Während überall sonst das moderne Deutsch Einzug hielt und je nach Region eine landschaftliche Färbung beibehielt, blieb dieses fortwährende „Garen“ der Sprache bei uns aus. Italienisch ist seit 1921 die unangefochtene Herrschaftssprache in Südtirol, heute ist sie schon die vorherrschende Sprache. Das so genannte „Hochdeutsch“ war nach 1946 gerade mal Zeitungs- und Mittelschulsprache. Später wurde daraus eine umständliche Verwaltungssprache und das dienerische Deutsch für Touristen. Ergebnis: Für drei Generationen fehlte das Band und der Treibriemen zur gehobenen und gelebten Sprache Deutsch. Selbst jetzt noch, im Jahr 2024, sind die Lücken und Verformungen dieses Mangels hörbar, wenn Südtiroler „Hochdeutsch“ oder „Schriftdeutsch“ reden müssen. Diese Lücke (gap), diese Kluft zwischen gelebter Sprache („Dialekt“) und Standardsprache sollte man „Mussolini-Gap“ taufen.
Erdäpfel im Mund
Mit Ausnahme von ein paar super trainierten Rundfunksprechern (und lange nicht alle) ist es jedesmal eine kleine Pein, sich das Hochdeutsch der Südtiroler anhören zu müssen. Man könnte meinen, die Leute hätten beim Reden einen heißen Erdäpfel im Mund oder gar ein Reibeisen verschluckt. Von flotter Geschwindigkeit, angenehmer Sprachmelodie oder der Beherrschung von Satzbau und gut sortiertem Wortschatz ganz zu schweigen. Im Südtiroler Landtag findet man solche Fälle sogar an der Spitze, aber das Mussolini-Gap gibt es überall im Land. Die Leute können nichts dafür und geben ihr Bestes, aber durch ihr mühsam erlerntes und kaum eintrainiertes Standarddeutsch wirken wie Gebildete (und folglich Bürger) zweiten Grades. Für Volksvertreter ist das doppelt peinlich. Also tut Hannes Rabensteiner (STF) als Abgeordneter zum Südtiroler Landtag ganz Recht, wenn er auf eine fragwürdige „Performance“ verzichtet und sich lieber auf das Eigene zurückzieht, auf seine wirkliche Muttersprache, das Tirolische, das allerorts hier im Land gesprochen und verstanden wird.
Simultanübersetzung ist Trumpf
Tirolisch ist, wie Schyzerdütsch, Bayerisch oder Wienerisch, eine vollgültige Ausdruckform des Deutschen gemäß Tradition und Sitte. Außer Frage steht, dass es zum gemeinsamen Verständnis die Anpassung an die deutsche Standardsprache braucht. Rabensteiners Bestehen auf seine Sprache ist umso mehr begründet, als diese auch die Sprache der deutschen und ladinischen Abgeordneten im Bozner Parlament ist. Perfektes Verständnis innerhalb der Volksgruppe, für die die Autonomie gemacht wurde, ist somit gegeben. De freundlichen und tüchtigen Simultanübersetzer haben bedeutet, dass es für sie kein Problem sei, das Tirolische ins Italienische zu übersetzen. Darauf sind die italienischen Volksvertreter nämlich angewiesen. Gemäß der nationalen Ideologie von Garibaldi bis Mussolini werden diese von ihrer Staatsschule eben nicht frühzeitig in den Stand gesetzt, die führenden Hochsprachen Europas, Deutsch, Französisch und Englisch, fließend zu sprechen und zu verstehen. Dafür aber beherrschen sie ihre eigene Sprache wie die Scherenschleifer.
Rabensteiner ist Pionier
Zwar wirkt die tirolische Sprachgeste von Hannes Rabensteiner heute noch wie ein erratischer Findling (Felsblock) im Wald. Aber anstatt den im allgemeinen Sicherheits- und Einheitswahn zu sprengen, sollte man lieber schleunigst darangehen, die Lücke zwischen Deutsch lokal und Deutsch standard zu überbrücken. Südtirol könnte sogar eine eigene sprachliche „Fjusch’n“ aufmachen. Grundsatz: Ein eigenständiges Land soll eine eigenständige Sprache haben. Ziel für Südtirol muss sein: Ein flüssiges, reiches Deutsch in authentischer tirolerischer Färbung und Originalität. Der Hannes Rabensteiner von der Süd-Tiroler Freiheit kann dabei ruhig als Pionier gelten.