Michael Demanega

17.08.2024

Südtirol und die Unabhängigkeit: Wie sie möglich ist und woran sie (noch) scheitert

Stillstand oder Fortschritt? Konsenslösungen oder Beharren auf dem eigenen Standpunkt mit dem Risiko, letztlich mit leeren Händen – und noch weniger – dazustehen? Ergebnisorientierung oder Ego?

Bild: Michael Demanega

Die Unabhängigkeit Südtirols, die immer wieder einmal politisch aufflammt und brisant und akut wird, sollte in den vergangenen Monaten durch das Buch „Kann Südtirol Staat“ (UT24 berichtete) der Vereinigung „Noiland“ neuen Fahrtwind erhalten und völlig neue Bevölkerungsschichten in Südtirol erreicht haben, die bisher wenig bis gar nicht auf Unabhängigkeitsgedanken anzusprechen waren. Zuvor hatte bereits der Südtiroler Schützenbund mit der Initiative „Iatz“ neue Wege eingeschlagen, die freilich Befürworter und Gegner fand und in diesem Sinne gordische Knoten zu lösen versuchte.

Unabhängigkeitsdebatten werfen zahlreiche politische und diplomatische Problemstellungen auf. Insbesondere ist es aus Sicht der Staatengemeinschaft natürlich wenig bis gar nicht vorteilhaft, einem „Dammbruch“ in Richtung weiterreichender Autonomien bis hin zu Eigenstaatlichkeiten und Grenzverschiebungen nachzugeben. Eine derartige Dynamik würde – einmal in Gang gesetzt – den „Status Quo“ mehrerer Staaten zur Disposition stellen und mitunter ernsthafte politische und diplomatische Eskalationen riskieren. Umso wichtiger ist es, dass die Debatte in einem geordneten Rahmen läuft, dass Vorbehalte frühzeitig ausgeräumt und folglich günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Das Selbstbestimmungsrecht ist im Völkerrecht verankert und wurde mehrmals erfolgreich umgesetzt (1990 Slowenien, 2006 Montenegro, 2008 Kosovo). In allen diesen Fällen ging es um Teilgebiete, die sich unabhängig machten und die die eigene Souveränität beanspruchen, also ein Volk, das sich auf ein Territorium und eine Herrschaft bezieht.

Montenegro 2006

Bevölkerungsstruktur: 625.000 Einwohner, 45 % Montenegriner, zu 29 % Serben, zu etwa neun Prozent Bosniaken, fünf Prozent Albaner und drei Prozent slawische Muslime. Unabhängigkeit: Regierung und Opposition einigen sich auf eine Volksabstimmung. Notwendige Mehrheit: 55 %. Ergebnis: 55,49 %. Anerkennung erfolgte relativ problemlos. Montenegro ist Mitglied der Vereinten Nationen, der Welthandelsorganisation WTO, der OSZE und des Europarates. Zudem ist Montenegro Beitrittskandidat der Europäischen Union und 2017 der NATO beigetreten.

Kosovo 2008

Bevölkerungsstruktur: 1,7 Mio. Einwohner, 88 % Albaner, sieben Prozent Serben, fünf Prozent Türken, Bosniaken, Torbeschen, Goranen, Janjevci (Kroaten), Roma, Aschkali und Balkan-Ägypter. Unabhängigkeit: Unabhängigkeitserklärung von 109 der 120 Mitglieder des Kosovarischen Parlaments. Es folgte keine Volksabstimmung. Die Unabhängigkeit ist aufgrund der Bevölkerungsentwicklung und fehlender Volksabstimmung umstritten. Die Anerkennung ist problematisch (115 von 193 UN-Mitgliedsstaaten). Der Internationale Gerichtshof IGH erklärte die Sezession für grundsätzlich nicht völkerrechtswidrig. Weitere Anerkennungswelle blieb aber aus. Internationale Staatengemeinde wartet Verhandlungen zwischen Serbien und Kosovo ab.

Schottland 2014

Unabhängigkeit: Parlamentswahl 2007 bringt absolute Mehrheit für die SNP. Diese löst ihr Wahlversprechen ein und kündigt eine Volkabstimmung im Herbst 2014 an. Großbritannien erklärte, dass man sich dieser Volksabstimmung nicht in den Weg stellen wolle, sehr wohl aber dagegen argumentieren würde. Vorerst ist die Unabhängigkeit gescheitert, diese wird allerdings als mittelfristiger Prozess aufgefasst.

Die Diskussion zu Selbstbestimmung und Sezession ist mit Blick auf das Völkerrecht alles andere als deutlich. Neben negativen Urteilen gibt es auch ermutigende Ansichten. Der Völkerrechtler Peter Hilpold hält am 31. März 2007 auf Schloss Sigmundskron fest: „Sehr wohl ist das Sezessions-Recht möglich und realisierbar, aber nicht geregelt.“ Der Völkerrechtler Peter Pernthaler schreibt im Jänner-Februar 2011 im Rahmen der Zeitschrift „Genius – Lesestücke für ein freiheitliches Europa“: „Rechtlich völlig legal, politisch aber risikoreich“, da ein ethnisches Plebiszit und Drei-Parteien-Verhandlungen der Fall seien. Und der Verfassungsrechtler Francesco Palermo deklariert am 13. Jänner 2012 in der „Neuen Südtiroler Tageszeitung“: „Wenn die Bevölkerung es will, dann ist es (…) machbar“.

Befasst man sich mit der völkerrechtlichen Auseinandersetzung zum Thema Selbstbestimmung und Sezession, drängen sich einige Festlegungen auf.

Die einseitige Selbstbestimmung (Sezession) war und ist umstritten. Das Völkerrecht sieht nach Meinung zahlreicher Experten das automatische Recht auf Sezession nur in besonderen Fällen vor, in denen es zu Völkerrechtsverletzungen oder sonstigen schwerwiegenden Vorfällen kommt.

Andererseits gibt es auch kein Verbot der Sezession. Im Gegenteil: Der Internationale Gerichtshof bezieht das Selbstbestimmungsrecht mit Blick auf den Kosovo ganz klar auch auf die Sezession und nicht nur auf die „innere Selbstbestimmung“.

Die vielfach debattierte, so genannte „staatliche Integrität“, also das so genannte „Recht“ von Staaten, dass die eigenen Grenzen nicht angetastet werden, bezieht sich vorwiegend auf die zwischenstaatliche Ebene und schützt vor Gebietsansprüchen durch anderweitige Staaten. Die Sezession bezieht sich hingegen nicht auf Grenzverschiebungen, sondern auf die Unabhängigkeitserklärung eines Teilgebietes. Das Recht auf staatliche Integrität ist damit nicht in Frage gestellt. Die Unabhängigkeit von Teilgebieten ist in demokratischem Maße legitim, insbesondere dann, wenn kulturelle, ethnische oder historische Beweggründe vorliegen. Das bedeutet aber auch, dass Unabhängigkeitsbewegungen grundsätzlich kaum vergleichbar sind und dass Unabhängigkeit aus opportunistischen, rein ökonomischen Gründen kaum Legitimation finden kann.

Ein Unabhängigkeitsprozess sieht auf jeden Fall vor, dass sich ein Teilgebiet auf Grundlage internationaler Rechtsbestimmungen unabhängig erklärt. Selbst für den Fall, dass sich das unabhängig werdende Teilgebiet in einem zweiten Moment einem anderen Staat anschließen wollte, wäre der Unabhängigkeitsprozess als Initialprozess notwendig, der in der Folge in Aufnahmeverhandlungen münden müsste. In Südtirol drängen hingegen bestimmte Kräfte auf den zweiten Schritt ohne den ersten Schritt zu setzen – und wahrscheinlich ist das auch beabsichtigt, dass es keine politischen Fortschritte geben soll, die das Jammern beeinträchtigen würden.

Eine Übernahme durch einen anderen Staat hätte allerdings weitreichende diplomatische Problematiken zur Folge. Einfacher sind nach heutiger Sicht geordnete und zivilisierte Eigenstaatlichkeiten mit zwischenstaatlichen Abkommen, wozu umfangreiche Verhandlungen notwendig sind. Eine anarchische und unkontrollierte Unabhängigkeitserklärung wird wenig Rückhalt und Anerkennung finden.

Nicht weniger wesentlich als eine Unabhängigkeitserklärung ist die Anerkennung durch die Staatengemeinschaft, an welcher Unabhängigkeiten vielfach scheitern. Damit eine Anerkennung potentiell möglich ist, sind demokratische Standards, Menschenrechtsstandards, Minderheitenrechte, Rechtsstaatlichkeit sowie politische und wirtschaftliche Stabilität und die Einbeziehung internationaler Institutionen unabdingbar.

Was in der gesamten Debatte auffällt, ist, dass es natürlich starke Argumente für eine Unabhängigkeit geben muss. Die akute Verletzung von Minderheitenrechten oder drastische Eingriffe in die Selbstverwaltung sind denkbar starke Argumente, die entsprechende Vorstöße in Richtung Unabhängigkeit einfach machen.

Es geht aber auch im positiven Sinne wie im Falle Schottlands um das Generieren einer Haltung. Zweifelsfrei ein aufwändiger Prozess, der zahlreiche Ebenen umfassen muss und wo auch manche Gemeinplätze zur Disposition gestellt werden. Durch einen integrativen Unabhängigkeitsbegriff, durch gemeinsames Gestalten der eigenen Zukunft und des Gemeinwesens, durch Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation, durch Abbauen von Ängsten und Sorgen, durch Vernetzung und Einbezug möglichst breiter Bevölkerungsschichten, durch Sicherheiten für alle Bevölkerungsschichten und ethnische Gruppierungen sind Fortschritte denkbar und möglich.

Die Frage ist vielmehr, ob man bereit ist, einen derartig positiven und offenen Weg zu gehen, wozu eine geistige Mobilität gehört. Oder ob es vielmehr um vermeintlich „perfekte“ Lösungen ohne Kompromissbereitschaft gehen soll, die zwar idealistisch und fantasiereich, aber nicht real sind und bei denen das Risiko besteht, letztlich mit gänzlich leeren Händen – und mit noch viel weniger – da zu stehen.

Durch die Versteifung auf so genannte „perfekte“ Lösungen werden zwar das Ego und die eigenen Befindlichkeiten befriedigt, die Zukunft wird dadurch aber nicht gesichert. Ganz im Gegenteil: Das römische „Divide et impera“ hat in Zersplitterung, Spaltung, Parolen statt Konzepten, sinnlosen Intrigen, Persönlichkeitsstörungen und Verwirrungen bezugnehmend auf Freund und Feind sehr willfährige Verbündete. Aber nicht mehr allzu lange.

Die Orientierung am Realen bewertet jede Haltung nach den Ergebnissen und Fortschritten innerhalb der Wirklichkeit. Larmoyanz ist dabei wenig aussichtsreich und auf Dauer nicht tragbar. Zukunft wird durch Optimismus gemacht.

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