Florian Stumfall

14.06.2024

Der „neue Mensch“

Bis zum Jahr 2030 werdet ihr nichts besitzen und glücklich sein.“ Dieses Wort wird dem Gründer des Weltwirtschaftsforums (WEF), Klaus Schwab, zugeschrieben. Ob es nun authentisch ist oder untergeschoben, spielt insofern keine Rolle, als sich darin kaum verhüllt – eine in der Geschichte immer wiederkehrende Zielvorstellung verbirgt, nämlich die Idee vom neuen Menschen. Ob Friedrich Nietzsches Übermensch, die arische Edelrasse der Nationalsozialisten, Ludwig Feuerbachs Mensch als des Menschen Gott oder der sozialistische Mensch des Karl Marx als Gattungswesen, um nur einige wenige Beispiele aus der europäischen Geistesgeschichte zu nennen – allen ist gemeinsam, dass sie sich mit dem Menschen, wie er ist, nicht abfinden wollen.

Gründer und geschäftsführender Vorsitzender der Schweizer Stiftung und Lobbyorganisation „Weltwirtschaftsforum“, welche das gleichnamige Jahrestreffen in Davos veranstaltet: Klaus Schwab (Foto: Flickr/Regierung Thailands).

Denn die Erfahrung zeigt: Menschen sind eigennützig, zänkisch, unzuverlässig, oft gewalttätig, neidisch, unehrlich und rechthaberisch. Da aber die Väter jener von der Wirklichkeit abweichenden Vorstellung vom Menschen alle samt und sonders ideale Lebensverhältnisse und einen vollkommenen Staat schaffen wollen, müssen sie sich der Einsicht stellen, dass so etwas mit den Leuten, die man gemeinhin vorfindet, nicht zu machen ist. Daher der immer aufs neu ertönende Ruf nach dem neuen Menschen. Auf unvollkommenen Menschen nämlich baut kein vollkommener Staat. Der aber ist das Ziel, seit Immanuel Kant erklärt hat: „Der Endzweck der Menschheit ist die Erreichung einer vollkommenen Verfassung.“

Wahn der Gleichheit

Bezeichnend dabei ist, dass Ideologen dieser Art zwar die Fehler und Schwächen des Menschen erkennen, seine Vorzüge und Tugenden aber nicht berücksichtigen. Denn Menschen sind auch hilfsbereit und liebreich, rücksichtsvoll, aufmerksam gegen andere, großzügig, verzeihend und verständnisvoll. Für die Errichtung der vollkommenen Welt aber reicht das nicht, denn ein einziger Mensch, der auch nur einen einzigen Fehler aufweist, intellektuell oder charakterlich, falsifiziert das gesamte Gedankenexperiment und damit die Grundlage für den „Endzweck der Menschheit“. Die Vollkommenheit verträgt und duldet keine Ausnahme, und sei sie noch so gering.
Hier gründet auch der Unterschied zwischen Ideologien und Religionen. Während ihnen beiden gemeinsam ist, dass sie Heilslehren darstellen, sucht eine Ideologie ihre Verwirklichung in dieser Welt und mit den Mitteln dieser Welt. Eine Religion aber sieht ihre Erfüllung in einem Jenseits. Vor dem theologischen Maßstab finden daher alle Wesensarten des Menschen Berücksichtigung, er wird als eine individuelle Ganzheit begriffen, nicht als Variable gesellschaftlicher Bedingungen oder als Angehöriger einer Rasse. Ein weiterer wichtiger Unterschied: Aus einer Glaubensgemeinschaft kann man, sofern es sich nicht um den Islam handelt, ohne Weiteres austreten; das ist bei einer ideologischen Formation, die politisch Gestalt angenommen hat, nicht möglich. Das beweisen die Hunderte von Toten an der innerdeutschen Grenze.

Was Ideologien und Religionen gemein ist und was sie unterscheidet

Es ist auch keineswegs Absicht der Strategen, den neuen Menschen nach dem Bilde etwa des Übermenschen von Nietzsche zu formen. Vielmehr soll er sich nach unten orientieren – ohne Widerspruch, ohne Willen, ohne Wünsche, ganz, wie ihn Graf Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, der Gründer der Paneuropa-Union, beschrieben hat: „klug genug, um zu arbeiten, aber zu dumm, um Fragen zu stellen“. Der Philosoph Aldous Huxley schreibt: „Ein wirklich leistungsfähiger totalitärer Staat wäre einer, worin die allmächtige Exekutive politischer Machthaber und ihre Armee von Managern eine Bevölkerung von Zwangsarbeitern beherrschen, die gar nicht gezwungen zu werden brauchen, weil sie ihre Sklaverei lieben.“
Aufs engste mit dem Projekt „neuer Mensch“ verbunden ist der Wahn der Gleichheit. Wenn nämlich alle Menschen gefügig, bedürfnislos und frei von Empfindungen sind, wenn sie ferner ihre früheren Merkmale des Charakters, der Neigungen und Talente verloren haben, dann sind sie einander gleich. Der neue Mensch ist austauschbar, jeder ein Modul gleicher Bauart und Größe. Es kann daher nicht erstaunen, dass von allen Einschränkungen, welche die Politik den Menschen zumutet, die Beschneidung der Meinungsfreiheit am schmerzlichsten empfunden, von den Regierenden aber am rücksichtslosen vorangetrieben wird.

Die Elite steht über der Doktrin

Gleiche Menschen haben keine ungleichen Meinungen. Wo solche aber laut werden, bilden sie das ernsteste Kennzeichen dafür, dass sich die Menschen noch dagegen wehren, „neue Menschen“ zu werden. Sie halten weiterhin ihr Denken und Empfinden für ihre eigene Angelegenheit, sie fühlen sich ihrem Milieu, der Familie vor allem, näher als einer politischen Lehre, sie ziehen ihr nächstes Umfeld, die Heimat und deren Besonderheiten, fremden Einflüssen vor, und wollen vor allem bei der Abwägung all dieser Faktoren nicht bevormundet werden.
Die Unvollkommenheit der Menschen aber besteht bei jedem einzelnen in seiner Differenz zum Ideal. Um es mit einem Bild auszudrücken: Bemüht sich eine gewisse Anzahl von Probanden, mit freier Hand einen Kreis zu zeichnen, so wird jeder die ideale Form verfehlen, aber jeder in einer anderen, ihm eigenen Art der Abweichung. Doch alle haben sich am selben Ideal orientiert. So ist auch ganz grundsätzlich jeder einzelne Mensch durch seine persönliche Art der Abweichung vom Ideal beschrieben und gekennzeichnet. Jeder Versuch, solche Unterschiede einzuebnen, kann zwar den Zweck, nämlich die Gleichheit, nicht erbringen, aber die Menschen in ihrem Tiefsten verletzen und zerstören.
Dass es den Strategen der Gleichheit gar nicht um ihr vorgeschobenes Ziel, sondern um die Macht geht, zeigt Wladimir Iljitsch Lenin, marxistischer Theoretiker und Gründer der Sowjetunion, in seiner Schrift „Was tun?“ von 1920. Dort weist er der Partei – völlig losgelöst von der Lehre der Gleichheit – die Aufgabe zu, die Massen zu indoktrinieren und zu lenken auf dem Weg zum neuen Menschen. Die Elite steht über der Doktrin, ebenso wie heute. Und dann gilt der anonyme Vers: „Das ist’s, dass sich der Plan zur Tat verdichtet – der neue Mensch erscheint, der alte wird vernichtet.“

Kolumne von Dr. Florian Stumfall
Erstveröffentlichung PAZ (redaktion@preussische-allgemeine.de)

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