Gerald Danner

21.11.2024

„Eisernes Schweigen“ – Das Attentat meines Vaters

Traudl Bünger versucht mit ihrem neuen Buch ein Kapitel Zeitgeschichte, „eine deutsche Familiengeschichte“, aufzuarbeiten, zeigt jedoch, dass die Aufarbeitung dieser Geschichte eher von ihren eigenen Vorstellungen als denen der Betroffenen geprägt ist.

Mit enormen Aufwand und Fleiß ist Bünger der Geschichte ihres Vaters auf der Spur, über die er zeitlebens immer geschwiegen habe. Vier Jahre lang recherchiert sie nach seinem Tod in über zehn Archiven und wälzt dabei ca. 60.000 Seiten an Aktenmaterial, führt Gespräche mit Verwandten und trifft sich mit dem Extremismusexperten Gideon Botsch und Christoph Franceschini, einem Kenner der Südtiroler Zeitgeschichte. Konkret geht es um ein Attentat, welches sich am 20. Oktober 1962 während der Südtiroler Bombenjahre ereignete. In Verona explodierte zwischen 14.00 und 14.30 Uhr ein Sprengsatz in der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs. Mehrere Personen wurden verletzt, der Bahnbedienstete Gaspare Erzen starb an seinen schweren Verletzungen noch am selben Tag im Spital. Wenngleich die Südtiroler Bombenjahre, besonders in den letzten Jahren, gut erforscht wurden, wurde dieser Anschlag bisher nur wenig belichtet. 17 Jahre nach der Tat begann in der Bundesrepublik Deutschland in Köln ein Prozess gegen vier Angeklagte, der sich über mehrere Monate, 48 Verhandlungstage erstreckte. Einer der Angeklagten war der Vater von Traudl Bünger. Eine Verantwortung des „Befreiungsausschusses Südtirol“ (BAS) gilt als ungewiss. Der Österreicher und BAS-Aktivist Peter Kienesberger, ein weiterer Angeklagter, stellt in der Filmreihe „Bombenjahre“ (Teil 5) im Jahr 2005 klar, dass dieser Anschlag ohne Wissen oder Billigung der BAS-Führung durchgeführt wurde.

Verhältnis Büngers zum Vater

Sie hatte einen Vater, auf den sie sich stets verlassen konnte, beginnt Bünger ihr Buch. Ihre Methode, in den Ereignissen zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu springen, bietet eine durchweg kurzweilige und spannende Lektüre. Durch die rein interpretativen Episoden möglicher vergangenen Begebenheiten, die sie selbst zugebend natürlich nicht verifizieren kann, macht Bünger aber deutlich, trotz intensiver, teils erstmaliger Recherchen zu diesen Ereignissen, keine seriöse Aufarbeitung im Sinne zu haben. „Ich nenne es künstlerische Freiheit“ (S. 21). Es ist ihr dabei offenbar egal, andere wie beispielsweise Kienesberger mit diesen ausgedachten Anekdoten als skrupellosen Hasardeur darzustellen, der vorgehabt haben könnte, in Bozen Schüler des Istituto Galileo mit einer Sprengladung zu gefährden (S. 88).

In Kindheitserinnerungen schildert sie immer wieder die rechtsradikale Haltung ihres Vaters, der in den 1960er-Jahren zudem Funktionär des „Bundes Nationaler Studenten“ (BNS) war. Sie baut dem Leser in verschiedenen Kindheitserinnerungen das Weltbild ihres Vaters auf, sodass sie eigentlich sehr wohl um die Beweggründe des Vaters wissen müsste, sie aber offenbar nicht versteht oder verstehen will.

Subjektiv statt objektiv

Auch die Antworten ihres Onkels genügen ihr offenbar nicht, wenn er ihr erklärt, dass einem der unbeabsichtigte Tod des Bahnbediensteten Erzen, das Versagen des Zeitzünders jahrelang schwer belastet habe (S. 131). Traudl Bünger kann es nicht fassen, dass man darüber nicht sprechen möchte. Ihre Sicht der Dinge kund zu tun ist ihr wichtig beispielsweise im Zusammenhang mit der Flucht ihres Onkels. Fritz Bünger ist es im Jahr 1966 gelungen, sich in Köln einer Verhaftung zu entziehen, indem er die Polizeibeamten in seiner eigenen Wohnung einsperrte. „Es sind Umstände denkbar, in denen eine solche Szene für mich die reinste, eleganteste Heldentat wäre. Wenn es zum Beispiel Oktober 1962 und mein Onkel ein Redakteur des ‚Spiegel‘ gewesen wäre und sich in der ‚Spiegel‘-Affäre auf diese Weise der Verhaftung wegen Verdachts auf Landesverrat entzögen hätte“ (S. 237). Bünger bringt immer wieder ihre eigenen Maßstäbe und Intentionen ein, was das Buch viel an Seriosität verlieren lässt. „… ich sehe keine Idealisten. Ich bin traurig und wütend darüber, dass mein Vater mit siebenundzwanzig Jahren so selbstherrlich und gewaltbereit war“ (S. 272). Bünger wünscht sich so sehr, dass ihr Vater Reue gezeigt hätte (S. 131), „Ich will wissen, wie mein Vater damit gelebt hat, dass der Sprengsatz in Verona Termini nicht nachts, sondern nachmittags explodiert ist“ (S. 103). Zwangsläufig kommt der Leser zum Schluss, dass Traudl Büngers Selbstbezogenheit den eigentlichen Blick auf den Menschen, Täter wie Opfer, verlieren und das Buch bewusst in eine Subjektivität abgleiten lässt.

Ist das Schweigen darüber schlimmer als die Tat selbst?

Zwar zeigt Bünger mancherorts gewisses Einfühlungsvermögen und Selbstreflexion, schafft es jedoch nicht, dies auf die Vorgehensweise oder Haltung ihres Vaters zu übertragen. Bei allen wichtigen und sicher nicht irrelevanten Fragen die sie an den Zeitgeist und die Mentalität der Nachkriegsgeneration stellt, gelingt es ihr nicht, die Perspektive des Akteurs einzunehmen und damit auch das Schweigen zu begreifen. Beinahe verbissen, ohne diese notwendige Differenzierung, die möglicherweise das Bedeckthalten ihres Vaters erklären könnte, ein Recht darauf zu haben, jedes Detail eines Menschen zu erfahren, versteigt sie sich nicht nur in der etwas komisch anmutenden Verwunderung darüber, dass auf Familienfotos ihr Vater nicht als Attentäter zu erkennen sei (S. 154), sondern deutet sogar das schnelle und plötzliche Ableben ihres Vaters „als hätte er noch mit seinem Tod deutlich machen wollen, dass er nicht sprechen wird“ (S. 9).

Differenzierteres und dabei nicht verharmlosendes Vorgehen hätte Bünger in Astrid Koflers Zeitzeugen-Dokumentation über die Frauen in den Südtiroler Bombenjahren gefunden. „Die Reise ins Gedächtnis. Die lange Geschichte der Erinnerung. Erinnerungen sind ein Ort im Gedächtnis, der einem allein gehört, sie können schön sein und einladen, sie können schmerzen und aufwühlen. Eine Erinnerung zu teilen kann Freude bereiten, dem, der erzählt, und Unterhaltung demjenigen, der zuhört. Eine Erinnerung preiszugeben könnte aber auch bedeuten, ihr das Geheimnisvolle, Sakrale zu nehmen, sie zu entweihen: sie Teil der allgemeinen, der profanen, in diesem Falle der Südtiroler Geschichte zu machen. ‚Das ist etwas Wertvolles geworden‘, sagt Lina Steger, Schwester eines Attentäters und selbst über drei Jahre inhaftiert, ‚wenn ich darüber zu viel rede, verliert es den Wert.‘“ („Zersprengtes Leben“, S. 514f., 2003). Sicher mag Nachlebenden diese Haltung nicht befriedigen. Doch haben wir, wie Bünger es in ihrem Buch beinahe manisch einfordert –  von Hinterbliebenen wie der Familie des ums Leben gekommenen Gaspare Erzen abgesehen – ein Recht darauf alle dramatischen oder gar dramatisierenden Erlebnisse bis ins Detail in Erfahrung zu bringen? Den Vater zu verurteilen, nicht weil er lügt, sondern weil er schweigt? Einer der damals ebenfalls Angeklagten bekommt von Bünger den falschen Namen Manfred Schröder. Er gestand die Tat und sagte sich von seinen damaligen Beweggründen los. Genießt er im Gegensatz zu Peter Kienesberger deshalb einen besonderen Schutz? Da er die Tat zwar beging, aber im Nachhinein anders darüber denkt? Beinahe gewinnt man den Eindruck, das Ausschweigen sei schlimmer als die Tat selbst.

Dialog als Möglichkeit zur Aufarbeitung

Bei Büngers angedeuteten Zusammenhang in die rechtsterroristische Szene der Bundesrepublik Deutschland hätte sich vergleichend außerdem ein Blick in die ebenfalls lebensgeschichtliche Abhandlung Yury Winterbergs über den Rechtsterroristen und Aussteiger Odfried Hepp gelohnt („Der Rebell“, 2004), welche vollkommen ohne persönliche Zielsetzungen auskommt, ohne Ansätze von Verharmlosung zu finden. Der Aussteiger Hepp war von der Zusammenarbeit mit Winterberg überzeugt, da diese besser sei „als auf einen Sensationsreporter zu warten, der nur Halbwahrheiten über meine Vergangenheit verbreitet, vermischt mit frei erfundenen Zusammenhängen“ (Nachwort S. 372).

Vielleicht wird Traudl Bünger einmal dazu in der Lage sein, hinter das, wie sie es nennt „eiserne Schweigen“ des Vaters zu schauen, wenn sie zumindest versuchsweise ohne ihre gesetzten Maßstäbe dem Ansatz Hans Karl Peterlinis, einen der besten Kenner der Südtirol-Attentäter Szene folgt: „Ein Ansatz kann das gegenseitige Erzählen sein im Sinne eines Dialoges, wie er […] als Versuch einer kulturellen Veränderung gepflegt wird. Das Zulassen eines möglichen ‚Unterliegens‘, das Zulassen von ‚Niederlage‘ im Sinne [Thea] Bauriedls gewinnt eine den Dialog im Sinne von Austausch und Begegnung überhaupt erst stiftende Bedeutung. Wer im Dialog alle Kraft darauf verwendet, ja nicht besiegt zu werden, wird nicht zuhören und dem wird nicht zugehört. Darin liegt das Scheitern des gängigen politischen Diskurses in Medien und in Parlamenten begründet, auch in den Südtiroler Medien und im Südtiroler Landtag. Und daran krankt es mit der Trauerarbeit. Nicht durch Anschuldigung und Vorhaltung, sondern durch ehrliches Erzählen und offenes, beteiligtes Zuhören kann das Eigene an der Geschichte des anderen erkannt werden, was einen Verständigungsprozess einleiten könnte über das verdrängte Andere in der eigenen Geschichte. Dazu muss die Abwehr von Niederlage, Kränkung, Ausschluss, psychischem Tod und physischer Sterblichkeit soweit wie möglich gesenkt werden zugunsten eines freieren Blickes auf vergangene und eigene Traumata.“ („Freiheitskämpfer auf der Couch“, S. 188, 2010).

Traudl Bünger: Eisernes Schweigen. Das Attentat meines Vaters. Eine deutsche Familiengeschichte. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, ISBN 978-3-462-00490-8, 24 €.

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