von gk 18.11.2024 14:36 Uhr

Die Wiedergeburt des Schützenwesens: Ein Aufbruch für Südtirols Freiheit

Nach Jahren der Unterdrückung durch das faschistische Regime Italiens lässt Jörg Klotz die Schützentradition in Südtirol neu aufleben. Mit Freunden und Weggefährten legt er den Grundstein für eine neue Ära des Widerstands. Zwischen Prozessionen, patriotischen Kundgebungen und der Erneuerung der Passeirer Trachten entsteht ein Symbol für Hoffnung, Einheit und den ungebrochenen Freiheitsgedanken des Tiroler Volkes.

Jörg Klotz in der Passeirer Tracht

Nach seiner Heimkehr aus dem Kriegsdienst (wie es ihm dort erging, kann hier nachgelesen werden) sucht Jörg Klotz Josef Götsch und Leo Ennemoser auf. Mehr als der wirtschaftliche Wiederaufbau und das berufliche Fortkommen beschäftigten ihn der politisch-militärische Aufbau im Land und der Neubeginn des bewährten Selbstverteidigungssystems. Nach der Arbeit in der Schmiede bei seinem inzwischen gealterten Vater trifft er sich mit Freunden aus der Jugendzeit. Er kann sie für den Plan gewinnen, eine Schützenkompanie zu gründen. Sonntags geht er nach dem Gottesdienst nach St. Leonhard und nach St. Martin, um mit Götsch und Ennemoser die noch offenen Fragen und Probleme zu erörtern. Er ist viel unterwegs, zu Fuß, denn Autos gibt es in Walten noch nicht! Mit ihm sind seine engsten Freunde tätig: Hans Gufler, genannt „Pisn-Hans“, was auf die Abkunft von einem Mann namens Pius hinweist, und dessen Bruder Anton. In St. Leonhard bringt er eine weitere Kerngruppe zusammen. Der Grundstock der ersten Südtiroler Schützenformation nach 1918 ist gelegt. Die Männer treffen sich fast jeden Sonntag und erörtern nicht nur die materiellen Probleme für die Aufstellung einer Schützenkompanie, sondern auch die Sorgen um das weitere politische Schicksal Südtirols, das Ende 1945 noch nicht klar ist.

Die Tiroler nördlich und südlich des Brenners hoffen auf die Einsicht der Alliierten, dass der Fehler von 1919, Südtirol Italien zuzusprechen, nicht wiederholt werden darf. Es soll wieder Österreich eingegliedert werden, die Zerreißung des Landes Tirol ein für alle Mal beendet werden. Das Volk muss selbst tätig werden, seinen Willen laut genug bekunden! 1945 und vor allem 1946 kommt es zu vielen Kundgebungen in ganz Tirol. Der Ruf nach Wiedervereinigung des Landes ist nicht mehr zu überhören. In ganz Südtirol werden Unterschriften gesammelt. Bis in die kleinste Ortschaft kommen die Listen mit folgender Erklärung:

„Es ist unser unerschütterlicher Wunsch und Wille, dass unser Heimatland Südtirol von Brenner bis zur Salurner Klaus mit Nordtirol und Österreich wiedervereinigt werde.“

Die gesamte erwachsene Bevölkerung Südtirols unterschreibt. Die Mappen mit den Unterschriften werden heimlich nach Innsbruck geschafft und von Mädchen und Buben in Tracht dem österreichischen Bundeskanzler Leopold Figl beim Besuch anlässlich der Großkundgebung am 22. April 1946 überreicht. Die Mappen werden nach Paris gebracht, um sie der dort tagenden Friedenskonferenz zu unterbreiten. Auch Jörg Klotz und dessen Schützenfreunde unterstützen die Unterschriftensammlung nach Kräften und werben im ganzen Tal. Zu Weihnachten 1945 und zu Neujahr betet man in allen Kirchen Tirols, dass dem Land Gerechtigkeit widerfahre, dass das Volk wieder zusammengeführt werde.

Zwischen Hoffnung und Enttäuschung

Das Jahr 1946 beginnt nicht schlecht. Aus England und Amerika treffen hoffnungsvolle Meldungen ein, einflussreiche Persönlichkeiten arbeiten für Tirol, für Österreich. Im britischen Oberhaus in London fordert Lord Vansittart im Februar mit Nachdruck, das einzig Richtige zu tun, nämlich Südtirol ohne weitere Intrigen an Österreich zurückzugeben:

„Welche Narren würden wir sein, wenn wir mit offenen Augen noch einmal die gleichen Fehler machen! Wir mögen Italien gegenüber milde verfahren hinsichtlich Triest, wo es ein Jahr gegeben, in dem wir sowohl gerecht wie milde sein können, aber der Platz, an dem wir nicht gerecht und milde sein können, ist Südtirol. Italien mag sich für seine Dienste im Ersten Weltkrieg unterbezahlt gefühlt haben, aber in dieser Gegend wurde es zweifellos überbezahlt; und ihm die gleiche Münze nochmals zu zahlen nach einem Jahrzehnt der Treulosigkeit ist nicht Politik, sondern Irrsinn!“

Doch es kommen niederschmetternde Neuigkeiten aus London. Die Außenministerkonferenz der Siegermächte hatte schon im September 1945 beschlossen, keine größeren Grenzveränderungen zwischen Österreich und Italien vorzunehmen. Durch Tirol geht eine Welle der Entrüstung und Empörung. In weiteren Kundgebungen wird dem Protest Luft gemacht. Im Kleinen erlebt auch die neue Schützenformation um Georg Klotz dieses Wechselbad zwischen Hoffnung und schlimmster Befürchtung. Man will aber nicht nur zusehen, man will einen Beitrag, einen besonderen Beitrag zur Aufrüttelung des Gewissens leisten! Im Juni 1946 gäbe es ein besonderes Jubiläum, bei dem man Tiroler Gesinnung und Bewusstsein demonstrieren sollte. Dies nicht nur aus Schützentradition, sondern auch hinsichtlich der Einbindung der Kirche in die Sorge um die politische Entwicklung in Tirol. Die Herz-Jesu-Verehrung war in Tirol immer schon bedeutend.

Die Herz-Jesu-Tradition als Symbol des Widerstands

Im Jahr 1796, vor damals genau 150 Jahren, hatten die Tiroler Landstände in der Stadt Bozen angesichts großer Kriegsbedrohung durch die Truppen Napoleons in Anknüpfung an diese Verehrung eine Stiftung gegründet. Sie hatten sich im Vertrauen auf das Herz Jesu, es werde Schaden von Land und Leuten fernhalten, verpflichtet, besondere Verehrung im ganzen Land zu pflegen und ein jährliches Fest mit Prozession zu begehen. Der Glaube an das Herz Jesu hatte geholfen: Die Napoleonischen Truppen waren 1796 abgezogen, die Schützenkompanien, die im Süden des Landes eingesetzt worden waren, hatten keine großen Schlachten zu schlagen. In einigen heftigen Scharmützeln mit den durchziehenden Franzosen hatte es wohl Tod und Zerstörung gegeben, aber es war glimpflicher abgegangen, als man gedacht hatte.

Die Passeirer um Jörg Klotz beschlossen 1946 ein Zeichen zu setzen. In Schützentracht wollen sie an der Jubiläumsfeier in Bozen teilnehmen und damit signalisieren, dass Schützentradition und Wehrwille neu aufleben. Die Leute sollen wissen, dass sich etwas tut, dass der Widerstandsgeist nicht gebrochen und der Freiheitsgedanke nicht erloschen sind. Jörgs Freunde sind von dieser Idee begeistert. Aber es gibt viele Hindernisse materieller Art. Woher in kurzer Zeit die Trachten nehmen, es ist kaum noch ein vollständiges Stück vorhanden! Einzelne Teile gibt es, aber vieles ist nicht mehr zu gebrauchen, hat arg gelitten in der langen Zeit des Versteckens vor faschistischen Spitzeln. Das Geld und die Zeit reichen nicht zur Beschaffung neuer Stücke! Und die Fahnen! Eine Schützenkompanie oder -formation ohne Fahne wäre wie ein Körper ohne Seele. Die, welche in alten Pfarrhäusern, Speichern oder feuchten Dachkammern all die Jahre versteckt lagen, sind in schlechtem Zustand. Was also tun? Der „Herr Jörgl“ rät, die Kirchenfahne mitzunehmen. So würde man zweierlei erreichen: Die schlecht erhaltenen Schützenfahnen können kein Ärgernis erregen und die Italiener den Auftritt nicht wegen der Fahnen verbieten. Auf diese Weise ließe sich auch testen, wie die italienischen Behörden überhaupt auf einen solchen Aufmarsch reagieren!

Mutiger Auftritt der Passeirer Schützen

Jörg und seine Männer setzen alles in Bewegung, um die noch erhaltenen Trachtenteile auszuforschen. Es ist zwar nicht perfekt, aber sie können sich sehen lassen! Jörg hat keine geeigneten Schuhe, er kann nicht mit den Bergschuhen daherkommen. Also leiht ihm der Pircher-Schuster ein Paar noch passable Halbstiefel, wie sie die Schützen zu Beginn des Jahrhunderts getragen hatten. Die Spielhahnfedern, den traditionellen Hutschmuck der Tiroler Schützen, beschaffen die Jäger. Für den lange erwarteten Tag im Juni 1946 sind an die 20 Passeirer beisammen. Sie müssen früh aufstehen, um pünktlich in Bozen zur großen Feier am Herz-Jesu-Sonntag zu sein. Die vielen Bürgerleute dort staunen, als die Passeirer Schützenformation mit Kirchenfahne und in den alten Trachten in der Prozession mitmarschieren. Es ist der erste Auftritt von Südtiroler Schützen seit 1918, nach 23 Jahren faschistischer Zwangsherrschaft und nach den Wirren des Zweiten Weltkriegs. Nach der feierlichen Prozession scharen sich viele Männer um die Passeirer. Sie sind gerührt angesichts dieses patriotischen Bekenntnisses. Viele möchten dem Beispiel folgen. Es wird der Beschluss gefasst, das Schützenwesen im ganzen Land neu aufzubauen und die Schützenkompanien wieder zu gründen. Man ist sich bewusst, dass die italienische Regierung das größte Hindernis ist – würde sie es erlauben, dass sich die Schützen neu formieren? Die Versammelten sind sich einig, schnell an die Arbeit zu gehen und zu handeln, solange die Alliierten nicht endgültig über das weitere Schicksal Südtirols entschieden haben. Müde, aber glücklich und stolz kehren die Passeirer Schützen nach dem langen Tag in ihr Tal zurück.

Die Wiederbelebung der Tracht

Die Passeirer widmen sich daraufhin der Neuanfertigung von Trachten und der Ausbesserung der alten Fahnen. Schneidermeister Götsch sucht alte und neuere Unterlagen für die Passeirer Tracht zusammen. Es hatte seit den dreißiger Jahren in Salzburg und Nordtirol Bemühungen gegeben, die alten Trachten zu vereinfachen. Die meisten waren unter dem Einfluss der rasch wechselnden Moden überladen worden. Bei der Erneuerung galt es also, das Wesentliche beizubehalten, unnötigen modischen Firlefanz aber wegzulassen. Mit der Vereinfachung und Verwendung leichterer Stoffe wurden vor allem die Frauentrachten praktischer. Die Passeirer einigen sich, die erneuerte Form der Tracht zu wählen. Die Beschaffung kostet zwar ein kleines Vermögen, das keiner hat, aber man würde es irgendwie schaffen. Schneidermeister Götsch berät sich mit Fachleuten über Schnitt, Form, Material und Farbe der zu verwendenden Stoffe. Mit seiner Frau, ebenfalls Schneiderin, fertigt er erste Exemplare an, die den Freunden vorgeführt werden. Diese sind davon angetan. Jörg Klotz und Hans Gufler geben für sich selbst je eine in Auftrag, was finanziell nicht leicht fällt. Am Ostermontag des Jahres 1947 treten sie gemeinsam mit Schneidermeister Götsch erstmals öffentlich im Hauptort St. Leonhard in der neuen Tracht auf. Sie werden bestaunt und bewundert, aber das ist nicht ihre Absicht. Sie wollen die Bevölkerung des Tales für die Trachten gewinnen, den Keim für das Schützenwesen legen und Verständnis für die Tradition wecken. Viele Nachahmer sind es noch nicht, die meisten haben nicht das Geld zur Beschaffung einer neuen Tracht. Eine Rolle spielt aber auch immer noch die Angst vor persönlichen Folgen politischer Natur.

Fortsetzung folgt…

Der obige Auszug stammt aus dem Buch „Georg Klotz – Freiheitskämpfer für die Einheit Tirols“, der Biografie von Dr. Eva Klotz über ihren Vater.

Klotz, Eva: Georg Klotz. Freiheitskämpfer für die Einheit Tirols. Eine Biografie. Neumarkt an der Etsch: Effekt Verlag. 2002. ISBN: 3-85485-083-2

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