von red 11.10.2024 14:00 Uhr

Alte Tirolensien neu gelesen (Teil 40)

Chronik Südtirol 1959–1969. Von der Kolonie Alto Adige zur autonomen Provinz Bozen des Herausgebers Otto Scrinzi ist eine bedeutende Dokumentation eines entscheidenden Jahrzehnts in der Geschichte Südtirols, das geprägt war von politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und der schrittweisen Erringung der Autonomie. Eine Rezension von Andreas Raffeiner.

Intensivierung des „Südtirol-Konflikts“

Die chronologische Sammlung von Berichten, Essays und Analysen bietet ein tiefgehendes Verständnis der Ereignisse, die Südtirol in dieser Zeit formten. Die Gliederung des Buches zeigt eine thematisch breite Annäherung an die Südtirolfrage. Die Beiträge reichen von politisch-historischen Analysen über moraltheologische Betrachtungen bis hin zu rechtlichen und sozialen Aspekten. Hervorzuheben ist der umfassende historische Überblick, der durch die Chronik der Jahre 1959 bis 1969 gegeben wird. Diese Jahre markieren die Intensivierung des sogenannten „Südtirol-Konflikts“, der sich unter anderem durch Bombenanschläge und den Pfunderer Prozess bemerkbar machte. Der Herausgeber Otto Scrinzi verfasst selbst mehrere Beiträge, darunter auch ein wichtiges Schlusswort, in denen er eine retrospektive Einschätzung der Ereignisse liefert. Der Aufsatz von Helmut Heuberger „Zur Sache“ gibt dabei den Einstieg und stellt den Kontext her.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker

Ein zentrales Thema des Buches ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das von Werner Pfeifenberger ausführlich behandelt wird. Dies ist ein wesentlicher Aspekt des Konflikts, da Südtiroler Gruppierungen, insbesondere jene, die sich für die Abspaltung von Italien einsetzten, dieses Recht geltend machten. Ergänzt wird dies durch Franz Klübers moraltheologische Betrachtung des Widerstandes, die die ethische Legitimität des aktiven Widerstands im Kampf um Südtirol diskutiert. Richard von Helly widmet sich dem sozialen Problem Südtirols und thematisiert die soziale Lage der Bevölkerung, während Christian Plaickner den sogenannten Pfunderer Prozess beleuchtet, der ein zentraler Gerichtsprozess im Zusammenhang mit den Anschlägen war. Helmut Golowitsch analysiert die Rolle der Justiz als politische Waffe, während Plaickner in einem weiteren Beitrag die „Tauschgeschäfte“ rund um die Qualen der Folteropfer thematisiert, was die Repressalien gegen politische Aktivisten Südtirols aufzeigt.

Moralischer und rechtlicher Widerstand

Das Werk beeindruckt durch seine historische Genauigkeit und seine Vielzahl an Perspektiven. Jeder der Autoren bringt seine spezifische Expertise ein, wodurch das Buch sowohl für Historiker als auch für politisch Interessierte wertvoll ist. Besonders die Beiträge, die sich mit der moralischen und rechtlichen Dimension des Widerstands auseinandersetzen, sind von großer Relevanz, da sie die politischen und ethischen Dilemmata der damaligen Zeit beleuchten.

Bombenanschläge und internationale Aufmerksamkeit

Die Chronik bietet nicht nur einen objektiven Überblick über die Ereignisse, sondern reflektiert auch die unterschiedlichen Standpunkte, die in diesem Konflikt vertreten wurden. Die Kapitel zu den Bombenanschlägen und zur Instrumentalisierung der Justiz zeigen, wie stark politische und militante Mittel in den 1960er-Jahren miteinander verwoben waren. Zudem verdeutlicht die Chronik, wie der Weg zur Autonomie von massiven Spannungen und internationaler Aufmerksamkeit begleitet wurde.

Das vorliegende Werk ein vielschichtiges Werk, das die Komplexität der Südtirolfrage in den 1960er-Jahren darstellt. Es vereint historische Genauigkeit, politische Analyse und moralische Reflexion auf hohem Niveau. Für jeden, der sich mit der Geschichte Südtirols oder mit Fragen des Widerstands und der Selbstbestimmung auseinandersetzen möchte, ist dieses Buch eine unverzichtbare Quelle. Die sorgfältige Zusammenstellung von Beiträgen macht es zu einem unverzichtbaren Standardwerk der Südtirolgeschichte.

von Andreas Raffeiner
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Otto Scrinzi (Hrsg.), Chronik Südtirol 1959–1969. Von der Kolonie Alto Adige zur autonomen Provinz Bozen, Graz/Stuttgart 1996.

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