von red 06.10.2024 14:00 Uhr

Alte Tirolensien neu gelesen (Teil 35)

Alles fremd – alles Tirol des Herausgebers Wolfgang Meighörner ist ein Ausstellungskatalog des Tiroler Volkskunstmuseums im Jahr 2016, der den Leser durch eine beeindruckende Ausstellung, die sich mit dem „Fremden“ und seiner Wahrnehmung in Tirol, einem komplex und überaus relevanten Thema auseinandersetzt. Sowohl die Ausstellung als auch der Katalog bieten eine vielschichtige Reflexion über die kulturellen und historischen Dimensionen der Thematik in einem Gebiet, das oft als „homogen“ angesehen wird. Beide zeigen jedoch auf, dass das Fremde stets Teil der eigenen Identität war und ist. Eine Rezension von Andreas Raffeiner.

Bereits im Vorwort und in den ersten Beiträgen, die von Wolfgang Meighörner und Karl C. Berger verfasst wurden, wird klar, dass der Begriff des Fremden im Kontext Tirols auf verschiedenste Art zu verstehen ist: Fremdheit als kulturelles, sprachliches und ethnisches Phänomen. Die Autoren machen klar, dass es sich bei dieser Thematik auf keinen Fall nur um ein geschichtliches, sondern auch um ein hochaktuelles soziales Problem handelt, insbesondere wenn man sowohl die Migration als auch die Fluchtbewegungen ins Boot hereinholt.

Fremdes war immer schon Teil der Tiroler Identität

Der Katalog gliedert sich in mehrere thematische Schwerpunkte, die von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren beleuchtet werden. Hervorzuheben ist Annemarie Regensburgers Beitrag „Bilderwelten“. Sie untersucht, wie das Fremde hierzulande als Teil des Eigenen interpretiert wurde und zeigt eindrucksvoll, dass kulturelle Überlegungen und Beeinflussungen in der Kunst und Alltagskultur immer schon Teil der Tiroler Identität waren.

Fremdes unter Tier- und Pflanzenarten in Tirol

Ein bemerkenswertes Kapitel stammt aus der Feder von Peter Huemer, der sich mit der Neobiota, also fremden Tier- und Pflanzenarten in Tirol, beschäftigt. Seine Ausführungen machen deutlich, dass Fremdheit nicht nur auf den Menschen begrenzt, sondern auch in der Natur und Umwelt anzutreffen ist. Das erweitert das Konzept des Fremden in der Region auf interessante Weise.

Fremdes in der Tiroler Kunst - Sklavenhandel in Tirol

Helmuth Oehler und Walter Sauer liefern ebenfalls bedeutsame Beiträge. Oehler analysiert die Repräsentationen des Fremden in der Tiroler Kunst und Architekturgeschichte, während Sauer den Fokus auf Afrikaner und den frühen Sklavenhandel in Tirol lenkt. Diese historischen Perspektiven tragen dazu bei, den Einfluss von globalen Begebenheiten auf Tirol und seine Bevölkerung verständlich zu machen. Gerade die kritische Auseinandersetzung mit Stereotypen und der Darstellung des Fremden in der frühneuzeitlichen Kunst eröffnet dem Leser spannende Einsichten.

„Karrnerblut ist keine Strudelsuppe“

Ein weiterer Höhepunkt des Katalogs ist Edith Hessenbergers Aufsatz „Karrnerblut ist keine Strudelsuppe“, der sich mit der Historie der Jenischen in Tirol befasst, einer oft übersehenen und diskriminierten Minderheit. Hier wird deutlich, das Fremdheit auch innerhalb einer Region entstehen kann und dass gesellschaftliche Ausgrenzung und Vorurteile gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen tief verwurzelt sind.

„Pizza Tirolese“

Die Beiträge zu sprachlichen und kulinarischen Aspekten des Fremden, wie Hubert Bergmanns „Fremdwörter“ und der amüsant wirkende Abschnitt „Pizza Tirolese“, der sich mit den Einflüssen italienischer Küche auf Tirol beschäftigt, bereichern den Katalog und zeigen, dass das Fremde nicht immer als bedrohlich, sondern auch als bereichernd wahrgenommen werden kann.

„Der Mythos der ‚Reinheit‘“

Der letzte Abschnitt des Katalogs, insbesondere Ingo Schneiders Beitrag „Der Mythos der ‚Reinheit‘“ schafft es, die Ausstellung in die Gegenwart zu bringen. Hier wird die Herausforderung der Migration und Integration thematisiert, und der Wunsch vieler Menschen nach einer vermeintlich „reinen“ Tiroler Identität kritisch zerpflückt und differenziert hinterfragt. Diese Reflexion ist besonders vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Flüchtlingssituation wertvoll und betont das Erfordernis einer offenen und inklusiven Gesellschaft.

Insgesamt überzeugt das zu besprechende Werk nicht nur durch seine thematisch bunte Vielfalt, sondern auch durch die Tiefe der einzelnen Beiträge. Der Herausgeber und sein Autorenkollektiv haben es geschafft, den Forschungsgegenstand des Fremden aus unterschiedlichsten Perspektiven zu beleuchten und suchen Antworten auf historische, kulturelle, gesellschaftspolitische, soziale und naturwissenschaftliche Fragen.

Die visuelle Gestaltung des Katalogs und die reichhaltigen Bildmaterialien unterstützen die Abhandlungen und bieten einen zusätzlichen Zugang zur Ausstellung. Das Gleichgewicht zwischen wissenschaftlicher Fundierung und einer für ein breites Publikum zugänglichen Sprache ist gelungen. Alles in allem ist die Publikation ein sehr wertvoller Beitrag zur Debatte über Identität und Fremdheit im Land und darüber hinaus. Der Katalog und die zugrunde liegende Ausstellung verdeutlichen, dass das Fremde per se nicht fremd ist, sondern im Verhältnis zum Eigenen steht. Diese Erkenntnis ist gerade in Zeiten von Migration und Globalisierung keineswegs zu verachten; vielmehr ist sie von besonderer Relevanz.

von Andreas Raffeiner
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Wolfgang Meighörner (Hrsg.), Alles fremd – alles Tirol. Ausstellungskatalog des Tiroler Volkskunstmuseums (22.04.2016–06.11.2016), Innsbruck 2016.

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