von red 05.10.2024 14:00 Uhr

Alte Tirolensien neu gelesen (Teil 34)

Osttirol im Dritten Reich 1938–1945 von Martin Kofler ist eine umfassende Untersuchung, stellt ein bedeutendes Werk der Regionalgeschichte dar und bietet eine differenzierte Darstellung des nationalsozialistischen Regimes und seiner Auswirkungen auf die Bevölkerung Osttirols. Das Buch füllt eine entscheidende Lücke in der historiografischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in dieser spezifischen Region und trägt gleichzeitig zur breiteren Erforschung der nationalsozialistischen Herrschaft in den Randgebieten des Deutschen Reiches bei. Eine Rezension von Andreas Raffeiner.

Bereits in der Einleitung macht Kofler deutlich, dass er sich der Herausforderung bewusst ist, ein oft vernachlässigtes Thema zu behandeln: die NS-Herrschaft in einer ländlichen Region wie Osttirol, die im Vergleich zu den größeren urbanen Zentren oft weniger Aufmerksamkeit in der Forschung erhielt. Er legt zunächst die Literatur- und Quellenlage dar, wobei er die Problematik der fragmentierten und teils lückenhaften Quellen aufgreift. Doch durch seine gründliche Recherche gelingt es ihm, auch aus schwer zugänglichen oder wenig genutzten Archiven eine detaillierte Darstellung der Ereignisse zu liefern.

Osttirol vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten

Der erste Teil des Buches, der den Zeitraum von 1918 bis 1938 behandelt, beleuchtet die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Osttirols vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Hier gelingt Kofler eine prägnante Analyse der sozialen und ökonomischen Spannungen, die in den 1920er- und 1930er-Jahren zum Aufstieg der NSDAP führten. Besonders hervorzuheben ist seine detaillierte Betrachtung der Mitgliederstruktur der Partei, die einen wichtigen Einblick in die sozialen Milieus bietet, aus denen der Nationalsozialismus in der Region Unterstützung erfuhr.

NS-Herrschaft in Osttirol mit Widerstand

Im zweiten Teil, der den Kern der Untersuchung bildet und sich mit der Zeit von 1938 bis 1945 beschäftigt, liefert Kofler eine erschütternde Darstellung der NS-Herrschaft in Osttirol. Besonders eindringlich schildert er die Reaktionen der Bevölkerung auf den „Anschluss“ und die damit einhergehenden politischen Veränderungen. Er analysiert die Integration Osttirols in den Gau Kärnten und beschreibt die daraufhin entstehende Enttäuschung der lokalen Bevölkerung. Dieser Aspekt zeigt, dass die Begeisterung für das NS-Regime keineswegs ungebrochen war und sich bald erste Widerstände formierten.

Verfolgung von Minderheiten und Oppositionellen

Ein besonderes Verdienst des Buches ist Koflers detaillierte Auseinandersetzung mit der Verfolgung von Minderheiten und Oppositionellen in Osttirol. Seine Schilderungen über die Verdrängung der jüdischen Bevölkerung sowie die Ausgrenzung und Verfolgung der Sinti und Roma, Kommunisten und Zeugen Jehovas geben den Opfern des NS-Terrors ein Gesicht und verdeutlichen, dass auch ländliche Regionen wie Osttirol nicht von den Grausamkeiten des Regimes verschont blieben. Besonders berührend ist die Darstellung der „Arisierung“ jüdischen Eigentums und die damit verbundenen Schicksale der betroffenen Familien.

NS-Agrarpolitik, Zwangsarbeiter, Militarisierung

Ein weiterer Schwerpunkt des Werkes liegt auf der Darstellung der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in Osttirol während des Krieges. Kofler analysiert die Auswirkungen der NS-Agrarpolitik, den Einsatz von Zwangsarbeitern und die zunehmende Militarisierung des Alltagslebens. Seine Betrachtung der „Heimatfront“ zeigt eindrucksvoll, wie der Krieg selbst in entlegene Regionen wie Osttirol vordrang und den Alltag der Bevölkerung massiv beeinflusste. Besonders sensibel geht er auf die Situation von Frauen und Kindern in dieser Zeit ein, deren Rollen und Herausforderungen oft im Schatten der Kriegsereignisse stehen.

Rolle der Kirche unter dem Hakenkreuz

Ein weiterer bemerkenswerter Teil der Untersuchung ist die ausführliche Analyse der Kirche und ihrer Rolle unter dem Hakenkreuz. Kofler zeichnet ein differenziertes Bild der Kirche, die sowohl unter Druck stand, aber auch Widerstand leistete. Seine detaillierte Beschreibung der Maßnahmen gegen den Klerus und der Verdrängung kirchlicher Traditionen aus dem öffentlichen Leben verdeutlicht den tiefen Eingriff des NS-Regimes in das kulturelle und religiöse Leben Osttirols.

Koflers Werk überzeugt nicht nur durch die umfassende Darstellung der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern auch durch seine methodische Sorgfalt und die gründliche Quellenarbeit. Der umfangreiche Anmerkungsapparat sowie das detaillierte Personen- und Ortsregister bieten dem Leser zusätzliche Orientierung und machen das Buch zu einem wertvollen Nachschlagewerk für Wissenschaftler und Interessierte.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das zu rezensierende Werk ein sehr wichtiges Werk für die Erforschung der NS-Zeit in Österreich darstellt. Es würdigt die spezifischen historischen Bedingungen Osttirols, zeigt aber zugleich, wie stark die Region in das größere Netzwerk des nationalsozialistischen Staates eingebunden war. Kofler gelingt es, die tragischen Ereignisse der Zeit mit Würde und Respekt zu behandeln und dabei die Perspektive der Opfer und Widerständler in den Vordergrund zu rücken. Sein Buch ist nicht nur eine wissenschaftliche Leistung, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur.

von Andreas Raffeiner
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Martin Kofler, Osttirol im Dritten Reich 1938–1945, Innsbruck/Wien 1996.

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