von aw 05.10.2024 10:00 Uhr

Politische Meinungsmache unter wissenschaftlichem Deckmantel

Die kürzlich veröffentlichte Stellungnahme von Prof.in Simone Seitz und Prof.in Heidrun Demo des Kompetenzzentrums für Inklusion im Bildungsbereich der Freien Universität Bozen hat in der Debatte um die Einführung von speziellen Förderklassen, oft auch abwertend “Sonderklassen” genannt, in Südtirol für Kontroversen gesorgt. Die Forscherinnen argumentieren wissenschaftlich gegen die Einführung solcher Klassen für Kinder mit geringen Deutschkenntnissen.

Bild: APA (dpa/Symbolbild)

Sie stützen sich auf internationale Forschungsergebnisse, die darauf hinweisen, dass die Trennung von Schülern aufgrund ihrer Sprachkenntnisse negative Auswirkungen auf deren Lernfortschritt und soziale Integration haben kann. Sonderklassen, so die Argumentation, führen zu einer Marginalisierung der betroffenen Kinder und könnten deren Motivation und persönliches Wachstum beeinträchtigen.

In ihrer Stellungnahme heben die Professorinnen hervor, dass Schulen als „Gemeinschaft der Verschiedenen“ agieren und allen Kindern unabhängig von ihren Vorkenntnissen gleiche Bildungschancen bieten sollten. Sie argumentieren, dass Kinder mit geringen Deutschkenntnissen am meisten von der Interaktion mit muttersprachlichen Schülern profitieren, was in segregierten Klassen verloren ginge. Wissenschaftliche Studien zeigen laut den Forscherinnen, dass eine solche Segregation demotivierend ist und sich negativ auf die persönliche und soziale Entwicklung der betroffenen Kinder auswirkt. Diese Position ist in der Theorie nachvollziehbar und wird von vielen internationalen Bildungsexperten unterstützt.

Die Praxis in Südtirol: Deutschunterricht als Schlüssel zur Identität

Doch was in der Theorie logisch erscheint, stößt in der Praxis auf Schwierigkeiten – insbesondere in einem Land wie Südtirol, wo die deutsche Sprache von zentraler Bedeutung für die kulturelle Identität ist. In diesem besonderen Kontext sind der Erhalt und die Förderung der deutschen Sprache für die deutschsprachige Minderheit von essenzieller Bedeutung. Nicht umsonst gilt Art. 19 des Autonomiestatutes, welcher auf das Recht auf muttersprachlichen Unterricht verweist, als eine der wesentlichen Säulen des Statutes. Viele Eltern und Lehrkräfte äußern die Sorge, dass ein stark heterogenes Klassenzimmer, in dem ein erheblicher Teil der Schüler nur geringe Deutschkenntnisse hat, die Qualität des Unterrichts für die muttersprachlichen Kinder beeinträchtigen könnte.

Hier wird von den Professorinnen eine wichtige Realität übersehen: Deutsch ist nicht nur eine Unterrichtssprache, sondern auch ein zentraler Bestandteil der Identität der deutschen Minderheit in Südtirol. Die Forderung der Professorinnen, alle Schüler unabhängig von ihren Deutschkenntnissen gemeinsam zu unterrichten, berücksichtigt nicht die Herausforderungen, vor denen Lehrkräfte stehen. Sie müssen einen Unterricht gestalten, der sowohl Kinder mit begrenzten Deutschkenntnissen als auch muttersprachliche Schüler auf einem hohen Niveau fördert. Diese Realität kann im Alltag zu Überforderungen führen, wenn nicht ausreichend Ressourcen und Unterstützung bereitgestellt werden.

Deutschklassen in Bayern: Ein erfolgreiches Modell

Ein Blick nach Bayern zeigt, dass dort spezielle Deutschklassen als effektives Mittel etabliert sind, um Schülern mit geringen Sprachkenntnissen die Möglichkeit zu geben, intensiv Deutsch zu lernen, bevor sie in den Regelunterricht integriert werden. Diese Klassen, die als Teil des regulären Schulsystems angeboten werden, haben sich als äußerst erfolgreich erwiesen. Kinder mit geringen Deutschkenntnissen erhalten dort gezielte Unterstützung durch ausgebildete Lehrkräfte, was nicht nur den Spracherwerb fördert, sondern auch ihre Integration ins Schulsystem erleichtert​. Diese Deutschklassen sind ein Beispiel für eine praxisorientierte Lösung, die sowohl die Bedürfnisse der Kinder mit Sprachdefiziten als auch der muttersprachlichen Schüler berücksichtigt. In Bayern haben sich diese Klassen als äußerst effektiv erwiesen, indem sie eine intensive Sprachförderung anbieten, die den Schülern hilft, schnell Anschluss zu finden und sich langfristig erfolgreich in den Regelunterricht zu integrieren. Dabei wird die Qualität des Unterrichts für die muttersprachlichen Schüler aufrechterhalten, da die Lehrkräfte sich auf die spezifischen Bedürfnisse jeder Gruppe konzentrieren können.

Die Stimmen der Lehrkräfte und Eltern

Was in der wissenschaftlichen Stellungnahme der Professorinnen zudem weitgehend fehlt, ist die Perspektive derjenigen, die direkt von den Entscheidungen betroffen sind: die Lehrkräfte, Schulleiter und Eltern. Viele Lehrkräfte berichten von der Überforderung, die entsteht, wenn sie in einer stark heterogenen Klasse unterrichten müssen, in der einige Kinder kaum Deutsch sprechen, während andere muttersprachliche Schüler einen hohen Anspruch an den Unterricht haben. Eltern sorgen sich um die Qualität des Unterrichts ihrer Kinder und darum, dass die Fortschritte ihrer Kinder durch die unterschiedlichen Sprachkenntnisse in der Klasse gebremst werden könnten. Diese Stimmen sind essenziell, um die Herausforderungen des Schulalltags realistisch zu betrachten.

Die Bedürfnisse der muttersprachlichen Schüler bleiben unerwähnt

Ein bemerkenswerter blinder Fleck in der Stellungnahme von Prof.in Seitz und Prof.in Demo ist das völlige Fehlen einer Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der muttersprachlichen Schüler. In keiner ihrer Ausführungen wird auf die Herausforderung eingegangen, die Kinder haben könnten, die bereits Deutsch als Muttersprache sprechen und für die ein hoher Bildungsstandard im Deutschunterricht von entscheidender Bedeutung ist. Stattdessen konzentriert sich die Argumentation ausschließlich auf die Inklusion derjenigen Schüler, die geringere Deutschkenntnisse aufweisen. Diese einseitige Fokussierung lässt die Perspektive derjenigen außer Acht, die ebenso einen Anspruch auf einen qualitativ hochwertigen Unterricht haben, in dem ihre sprachlichen Fähigkeiten angemessen gefördert werden.

Es bleibt unklar, wie in einem solchen heterogenen Unterricht die muttersprachlichen Schüler auf ihrem Niveau abgeholt und ausreichend gefördert werden sollen.

Eine differenzierte Debatte ist notwendig

Die Debatte um die Einführung von Förder- oder Deutschklassen in Südtirol sollte differenzierter geführt werden, indem sowohl die theoretischen Erkenntnisse der Bildungsforschung als auch die praktischen Erfahrungen von Lehrkräften, Eltern und Schülern berücksichtigt werden. Die Realität in den Klassenzimmern erfordert pragmatische Lösungen, die den Bedürfnissen aller Schüler gerecht werden – sowohl derjenigen, die Deutsch erst erlernen, als auch der muttersprachlichen Kinder, deren Bildung auf einem hohen Niveau bleiben muss. Deutschklassen, wie sie in Bayern erfolgreich praktiziert werden, könnten auch in Südtirol eine sinnvolle und praktikable Option darstellen, um diesen unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. Ein offener und nicht wie aktuell ideologisch geführter Dialog, der alle relevanten Akteure einbezieht, ist unerlässlich, um eine Lösung zu finden, die für alle Beteiligten tragfähig ist.

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  1. FranzK
    05.10.2024

    Wiedereinmal Expertinnen die der SVP(essevupi) hörig sind.

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