von gk 27.09.2024 16:31 Uhr

Auf den Spuren des Freiheitskämpfers Georg Klotz

In ihrem Buch erzählt Eva Klotz die packende Geschichte ihres Vaters, des Südtiroler Freiheitskämpfers Georg Klotz. Sie beginnt ihre Aufzeichnungen mit ihren eigenen Erfahrungen beim Begehen des Fluchtweges, den ihr Vater nach einem misslungenen Mordversuch eines italienischen Agenten im Jahre 1964 schwer verletzt über die Berge nach Nordtirol zurückgelegt hatte.

Georg Klotz, Bild: Privat

Oktober 2001 – seit Tagen ist schönes Herbstwetter, wolkenloser Himmel wie seit Wochen nicht mehr. Der Wetterbericht verheißt weitere schöne Tage. Ob mein Vorhaben endlich gelingt? Mehrmals bin ich es angegangen und musste umkehren. Diesmal muss es klappen, wenigstens in einer oder zwei kürzeren Etappen! Da ich die Wegstrecke nicht kenne und mit den Hochalmen im hintersten Passeiertal nicht vertraut bin, bemühe ich mich um einen Begleiter aus dem Familienkreis. Mein Neffe Alexander, der ein paar Tage Urlaub vom Militärdienst hat, geht mit. Wir brechen zeitig auf, eine ganze Stunde sind wir von der ersten Brücke an der Timmelsjochstraße bis zu Timmels-Alm im Schatten unterwegs. Nach einer weiteren Gehstunde kommen wir zum großen Schwarzsee. Er liegt eingebettet in den Ausläufern der Stubaier Gletscherwelt. Der nächste lockende Gletschergipfel, der Botzer, ist ein lohnender Aussichtsberg. Unser Ziel aber ist die Windach-Scharte, von den Passeirern „Schwarzscharte“ genannt. Von da kommt man zur nächstgelegenen Schutzhütte auf Nordtiroler Seite, auf österreichischem Gebiet, zur Siegerlandhütte. Dorthin hat sich mein Vater, Alexanders Großvater, Georg Klotz, im September 1964 mit letzter Kraft nach zweiundvierzigstündigem Marsch und einem Steckschuss in der Brust vor tausenden von italienischen Verfolgern in Sicherheit gebracht. Er konnte nicht frei gehen wie wir heute. Er musste mit jedem Schritt auf Überraschungen gefasst sein, hinter jedem Hügel konnte eine Polizeistreife passen, ein Erkundungsflugzeug auftauchen. Da oben gibt es  keinen Schutz mehr, keinen Baum und keinen Felsblock, um sich zu verstecken.

Einen letzten Blick auf die Karte. Nach dem Schwarzsee geht es links hinauf, zu einem vorgelagerten Hügel. Ein schmaler Steig führt weiter zum Geröllfeld. Der Alpenverein hat nicht nur gut markiert, sondern Steinplatten so gelegt, dass man den Weg nicht fehlen kann. Es wird steiler und steiler, der Weg über die Moränenkegel immer schmaler. Alexander und ich kommen ins Keuchen, die steilen Serpentinen wollen nicht enden. Mit jedem Schritt muss ich an meinen Vater denken. Wenn wir uns schon so abmühen, wie mag es ihm dann erst ergangen sein nach über 40 Stunden Marsch, bereits den zweiten Tag und eine ganze Nacht durch, meist in steilem Gelände, mit Blutverlust, Wundfieber und schmerzhaften Gedanken. Er war dem Tod nur knapp entgangen, hatte seinen Freund Luis Amplatz tot in der Hütte liegen lassen müssen. Und die eigene Rettung war noch lange nicht sicher. Mit letzter Kraft hatte er sich zur Windachscharte geschleppt, zur Grenze inmitten Tirols, zwischen den Staaten Italien und Österreich.

Von der Windachscharte zur Siegerlandhütte

Von da war es noch eine Dreiviertelstunde zur Siegerlandhütte. Hinter der Windachscharte lag damals noch ein Gletscherfeld, sonst ein Spaß hinunter zu rutschen. Für ihn nicht ungefährlich, da er einen Arm überhaupt nicht mehr, den anderen nur mühsam und mit Schmerzen bewegen konnte. Alexander und ich haben die letzten Schritte über ungetüme Steine geschafft, wir stehen auf der Scharte. Mein erster Blick geht nicht zu den imposanten vereisten Gipfeln, sondern hinüber zur Siegerlandhütte. Ich denke mich in die Strapazen, die Erleichterung und gleichzeitig beklemmende Traurigkeit meines Vaters vor 38 Jahren hinein. Erleichterung, weil er von den Italienern nicht mehr gefasst werden konnte, tiefe Traurigkeit, weil er ganz allein zurück musste in die Verbannung, fort von der Familie und der Heimat. Wir erkunden mit dem Fernglas auch die andere Seite. Wir halten Ausschau nach dem Steig, der auf der Karte eingezeichnet ist, über den Vater vom Schneeberg herüber bis zum großen Schwarzsee gekommen war. Den Namen Karlscharte habe ich im Kopf, auf der Karte ist er auch eingetragen, aber wo ist sie nur? Mit dem Fernglas erkenne ich frische Wanderspuren in der schneebedeckten Rinne, die von den südlicher gelegenen Bergen zwischen zwei Massiven durchführt. Wie schaut das Ganze wohl auf der Rückseite aus? Wir sehen nur die Nordseite. Woher die Schneeberger Weißen den Namen haben, erkennt man am weißgrauen Dolomitabbruch, der zum bräunlich-roten Urgestein einen Kontrast bildet wie Tag und Nacht. Die Südseite muss im herbstlichen Sonnenschein noch eindrucksvoller sein.

Auf den Stuller Mahdern

Vier Tage später und immer noch klares Wetter. Zwei Tage soll es noch sonnig sein, dann würden sich die Wolken verdichten. Wenn ich nur einen der nächsten Tage freimachen könnte. Da fällt eine ganztätig anberaumte Sitzung aus. Das ist die Gelegenheit! Mitten in der Woche ist es schwierig einen Begleiter zu finden. Ich studiere die Wanderkarte. Das muss auch allein zu schaffen sein, exponierte Stellen sind nicht auszumachen. Ich nehme mir den Fußmarsch über die Stuller Mahder zum Schneeberg und hinauf zur Südseite der Karlscharte vor. Wenn ich mir den zweistündigen Marsch von Stuls bis zur Egger-Grub-Alm ersparen kann, gewinne ich Zeit und Höhenmeter. Eine Forststraße führt von Stuls über Moos in Passeier auf die Alm, die ganzjährig bewirtschaftet ist und von vielen Wanderern besucht wird. Die Schwester des Bauern fährt frühmorgens von Stuls auf die Alm, um ihrem Bruder in Stall und Küche zu helfen. Sie hat die Genehmigung der Forstverwaltung, diesen Weg zu befahren. Sie nimmt mich mit. Nach 20 Fahrminuten sind wir da. Der Bauer erwartet uns schon auf der Steintreppe, die in das geduckte Haus führt. Ich vergewissere mich über die Route zum Schneeberg. „Du musst immer kerzengerade hinaufgehen, direkt auf den Gipfel der Hochwarte. Du kannst den Weg nicht fehlen, er ist frisch markiert.“ Wie weit es bis zum Schneeberg sei, frage ich, mit vier, fünf Stunden sei zu rechnen.

Immer kerzengerade hinauf. Unterwegs bleibe ich mehrmals stehen, um zu sehen, wo Ulfas liegt, ob ich den Pichl-Hof sehen kann. Vater hatte auf seinem längsten Marsch in einem der letzten Gaden (kleine Holzhütte, in der im Sommer Heu eingelagert wird) hier auf den Stuller Mahdern fast zwei Stunden gerastet. Sein Begleiter, mein Vetter Adolf, hielt Wache. Mit dem Fernglas beobachtete er die Gegend. Als er es auf seinen Heimathof richtete, erschrak er: Es wimmelte dort, wo sie noch vor Stunden waren, von Uniformierten. Sofort weckte er meinen Vater und reichte ihm das Fernglas. „Herrgott noch einmal, sofort weiter!“ Welcher Gaden mag es gewesen sein?

„Wir sind immer oben die Jöcher entlang gegangen“

Ulfas suche ich vergeblich, es liegt unter der Nebeldecke, die immer dichter wird. Ich bin darüber. Je höher ich aufsteige, um so heller leuchten die höchsten Gipfel der Ötztaler Gletscher in der Sonne. Ich bleibe stehen, um die nach und nach auftauchenden Berge mit Hilfe der Karte einzuordnen: Königskogel, rechts davon das Königs-Joch, links das Ferwall-Joch. Vater ist auf vielen seiner geheimen Grenzgänge da drüber gegangen, um zu seinem Anwesen in Walten, unterhalb des Jaufenpasses, zu kommen. Schön steil die Gegend! Heute abschüssige Geröllhalden, in den sechziger Jahren muss da überall noch ganzjährig Schnee und Eis gelegen haben. Hochfirst und Granatkogel erkenne ich ohne Karte, sie sind markante Orientierungshilfen. Noch weiter links erstreckt sich der Rotmoosferner, über den man zur Zwickauer Hütte gelangt. Die Freiheitskämpfer musste sie meiden und umgehen, weil sich von Juni bis Ende Oktober italienische Grenzposten dort einquartiert hatten, wie auf den meisten anderen Schutzhütten in Grenznähe auch. Ich komme gut voran. Hinauf und hinab führt die frische rot-weiße Markierung. Auf der Karte ist ein solcher Höhenunterschied nicht erkennbar. Die Stunden fliegen dahin. Keuchend erreiche ich die Scharte und bin erleichtert. Ich bin überzeugt, die höchsten Anstiege hinter mir zu haben, aber wieder geht es abwärts und dann flach weiter über den nächsten Kessel. Da kommt der nächste Bergrücken, wieder steil bergan! Zur nächsten Scharte hinauf und drüber wieder herunter. Adolf muss mit Vater auch diesen Weg gegangen sein. „Wir sind immer oben die Jöcher entlang gegangen“ hat er lapidar gesagt. Es klang nach einem weiter nicht erwähnenswerten Streckenabschnitt. In Wirklichkeit waren es anstrengende Stunden voll Bangen und körperlicher Strapaze. Mir verlangt es bereits sehr viel Kraft ab und ich kann frei gehen, bin weder verwundet noch übermüdet.

Auf dem Schneeberg

Auf einem Felsvorsprung bleibe ich stehen, um zu sehen, wie weit es noch bis Schneeberg ist. Endlich sehe ich die Karlscharte. Ich gehe vorbei an zwei großen Findlingen. Ich stelle mir vor, wie sich Vater und Adolf hinter einem solchen geduckt haben, als zweimal der Hubschrauber über ihnen eine weite Schleife zog. Sie verschwanden zum Glück wieder. Die Piloten glaubten wohl selbst nicht daran, dass der Klotz überhaupt so weit gekommen sein könnte. Dass er getroffen war, wussten sie. Die Soldaten, welchen den toten Luis Amplatz bargen, hatten die Blutspuren von Klotz bis in den tiefen Abgrund verfolgt. Stundenlang hatten sie hineingeballert, in der Annahme, er halte sich dort versteckt. In Wirklichkeit hatte er sich aufgemacht, zum wohl längsten und beschwerlichsten Marsch seines Lebens.

Es ist vier Uhr nachmittags. Ich bin am Schneeberg. Jetzt kann ich die ehemalige Knappensiedlung St. Martin mit den renovierten Gebäuden sehen: Es war eines der größten Bergwerke Tirols, in jedem Fall das höchstgelegene ganz Europas, auf 2350 m Meereshöhe. Ich Winter lagen manchmal bis zu 7 Meter Schnee, es herrschten extreme klimatische Bedingungen.

Ich wollte ursprünglich noch zur 2632 m hohen Karlscharte, angesichts der späten Stunde verabschiedete ich mich jedoch von diesem Vorhaben. Vater hatte in jenen Septembertagen 1964 noch da drübergehen, auf der anderen Seite zum Schwarzsee absteigen, zur Windach-Scharte hinauf und von dort bis zur Siegerlandhütte weitermarschieren müssen. Unvorstellbar, unglaublich, dass ein Mensch das schafft! Obwohl ich nicht die ganze Wegstrecke zurücklegen konnte, habe ich eine klare Vorstellung von Vaters Fluchtweg.

Von Italien gefürchtet und gejagt

Ich kann jetzt ermessen, welche Willenskraft er hatte und brauchte. Wenn jemand solche Strapazen und Gefahren auf sich nimmt, muss er von der Sache, für die er das alles tut, tief durchdrungen sein. Wie leicht und gut hätte er es daheim in Walten haben können. Er hätte als Schmied und Sägewerksbesitzer sein Auskommen gehabt. Was trieb diesen Mann in den ungleichen Kampf, in eine solche Situation, verfolgt von einer ganzen Staatsmacht, gejagt von einem ganzen Heer und gefürchtet von ganz Italien. Seine Lebensgeschichte ist tief verwoben mit dem Schicksal des Landes Tirol im vergangenen Jahrhundert, mit der Entrechtung des Volkes südlich des Brenners durch italienische Fremdherrschaft und mit dem Widerstand gegen Unterdrückung und Überfremdung. Für die Italiener wurde er in den sechziger Jahren zum Inbegriff des „Schreckens“. Für die eigenen Landsleute zu einer Symbolfigur des Freiheitskampfes, der im Schutz der Wälder, der Berge und der Nacht den Lebenseinsatz abverlangte und von schrecklichem Verrat geprägt war.

Fortsetzung folgt…

Der obige Auszug stammt aus dem Buch „Georg Klotz – Freiheitskämpfer für die Einheit Tirols“, der Biografie von Dr. Eva Klotz über ihren Vater.

Klotz, Eva: Georg Klotz. Freiheitskämpfer für die Einheit Tirols. Eine Biografie. Wien: Molden. 2002. ISBN: 3-85485-083-2.

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