von red 24.09.2024 17:00 Uhr

Kurioses Kapitel aus der Tiroler Rechtsgeschichte: Der Mäuseprozess von Glurns

Vor mehr als 500 Jahren hat sich in der kleinen Südtiroler Stadt Glurns, im Oberen Vinschgau gelegen, ein bemerkenswerter und kurioser Prozess ereignet, der in die Geschichte einging: der sogenannte „Mäuseprozess von Glurns“. Am 2. Mai 1520 sprach Richter Wilhelm von Haßingen ein ungewohntes Urteil über Lutmäuse – Wühlmäuse, die der Gemeinde Stilfs erheblichen Schaden zugefügt hatten. In seinem Rechtsspruch verfügte der Richter, dass die Tiere binnen vierzehn Tagen die betroffenen Äcker und Wiesen räumen und niemals wiederkehren dürften. Ein Urteil, das für uns heute geradezu absurd anmutet, aber damals tatsächlich ernsthaft verkündet wurde.

Mit rund 900 Einwohnern ist Glurns eine der kleinsten Städte in den Alpen - Foto: flickr.com Luca De Santis/cc

Die Vorstellung, dass Tiere wie Mäuse vor Gericht gestellt werden, erscheint modernen Zeitgenossen völlig unvorstellbar. Über viele Jahre wurde das Protokoll dieses Prozesses als bloßer Schwank abgetan, eine Art skurrile Anekdote aus längst vergangenen Zeiten. Doch bei genauerer Betrachtung ist dies wissenschaftlich kaum haltbar. Tatsächlich wurde Tieren zu Beginn der Neuzeit eine gewisse Rechtsfähigkeit zugesprochen, ein Konzept, das unsere heutige Gesellschaft kategorisch ablehnt. Wer das Urteil aus dem Mäuseprozess ernst nimmt, muss sich eingestehen, dass die Menschheit in Sachen Rechtsverständnis einst vielleicht fortschrittlicher war: Selbst Schädlinge wie Wühlmäuse hatten das Recht auf eine faire Behandlung.

Die Hintergründe des ungewöhnlichen Prozesses

Um die Hintergründe dieses ungewöhnlichen Prozesses zu verstehen, ist ein Blick auf die damalige Lage im Vinschgau notwendig. Das Jahr 1519, als die Lutmäuse erstmals von der Gemeinde Stilfs beschuldigt wurden, war geprägt von den verheerenden Folgen der Schweizerkriege. Zwei Jahrzehnte zuvor, im Jahr 1499, hatten die Truppen Kaiser Maximilians in der Schlacht an der Calven bei Mals eine vernichtende Niederlage gegen die Graubündner Landsknechte erlitten, was zu einer grausamen Verwüstung des Vinschgaus führte. Dörfer wurden geplündert, Menschen brutal ermordet, Häuser in Brand gesteckt und das Vieh ins benachbarte Engadin getrieben. Über ein Jahrhundert lang lag das Gebiet am Boden, was unter anderem erklärt, warum viele romanische Kirchen im Oberen Vinschgau bis heute erhalten geblieben sind – es fehlten schlichtweg die Mittel, um sie in gotische Bauwerke umzuwandeln.

Bild von Rolf Tischer auf Pixabay

Der Verteidiger der Mäuse

In dieser schwierigen Zeit, in der jeder Grashalm auf den steilen Bergwiesen für das Überleben der Bauern entscheidend war, trieben die Wühlmäuse in Stilfs ihr Unwesen. Die Nerven der Gemeindeverantwortlichen lagen blank, und so beauftragten sie den Bürger Simon Fliß beim Gericht in Glurns Klage gegen die Tiere zu erheben. Der Richter ließ die Anklage zu, und die Gemeinde bestellte einen Ankläger, während die Wühlmäuse durch den Stilfser Bürger Hans Grinebner verteidigt wurden. Trotz der Absurdität aus heutiger Sicht musste alles seine formale Richtigkeit haben.

Der Prozess fand ohne Beschuldigte statt

Am Verhandlungstag, dem 2. Mai 1520, erschienen die Lutmäuse jedoch nicht vor Gericht, weshalb ihr Verteidiger einspringen musste. Mehrere Zeugen bestätigten, dass die Tiere beträchtlichen Schaden angerichtet hatten. Unter anderem hatten sie die Felder so stark umgegraben, dass die Bauern kaum noch Heu und Grumat (den letzten Grasschnitt des Sommers) ernten konnten. Der Verteidiger der Mäuse argumentierte, dass die Tiere schon lange in dem Gebiet lebten und bat um eine milde Strafe. Er schlug vor, den Mäusen die Möglichkeit zu geben, das Gebiet geordnet zu verlassen, und forderte sogar Geleitschutz gegen ihre natürlichen Feinde wie Hunde und Katzen. Auch bat er darum, trächtigen Tieren eine längere Frist zu gewähren, damit sie ihre Jungen zur Welt bringen könnten, bevor sie abzogen. Diese Vorschläge wurden schließlich in das Urteil aufgenommen.

Gemeinde organisiert neuen Lebensraum für Mäuse

Doch damit war die Sache noch nicht erledigt. Die Gemeinde Stilfs musste sich darum kümmern, den Mäusen neue Lebensräume zuzuweisen. Nach zähen Verhandlungen gestattete die Gemeinde Schluderns den Tieren auf der „Spondiniger Leiten“ Zuflucht zu finden. Die Gemeinde Prad meldete jedoch Bedenken an und verlangte, dass die Mäuse auf ihrem Weg überwacht würden, damit sie nicht nach Prad zurückkehren.

Prozession gegen Wühlmausplage

Interessanterweise fand im Jahr 1550 eine Prozession in Prad statt, um die Wühlmausplage abzuwenden. Am Tag des hl. Magnus, dem 6. September, baten die Einwohner ihn um Schutz vor den Feldmäusen, indem alle verheirateten Personen mit einer Kerze zur Messe gingen. Ob diese spirituellen Maßnahmen Erfolg hatten, ist jedoch nicht überliefert.

Es ist bemerkenswert, dass an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit sogar Schädlinge wie Wühlmäuse eine gewisse Rechtspersönlichkeit besaßen. Die Geisteshaltung, die Tieren Rechte zusprach, ist dann erst Ende des 20. Jahrhunderts im Zuge der Umwelt- und Tierschutzbewegungen wieder aufgegriffen worden.

von Andreas Raffeiner

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