Schweizer Neutralität im Wandel: Experte René Roca im UT24-Interview
Im Interview mit UnserTirol24 diskutiert der Historiker und Gymnasiallehrer die möglichen Auswirkungen globaler Machtverschiebungen, die Rolle supranationaler Organisationen und die Konsequenzen für die Schweiz, wenn sie sich zunehmend in internationale Konflikte oder Selbstbestimmungsbewegungen einmischt. Und der Südtirolbezug darf klarerweise auch nicht fehlen.
René Roca, Experte für schweizerische Neutralitätspolitik und Leiter des Forschungsinstituts direkte Demokratie (www.fidd.ch)
Unser Tirol24: Herr Roca, wie bewerten Sie die Balance zwischen der Neutralität der Schweiz, der direkten Demokratie und der Notwendigkeit, sich in internationalen Krisen humanitär zu engagieren? Gibt es Situationen, in denen dieses Gleichgewicht kippen könnte?
René Roca: Die Schweiz hat mit ihren Guten Diensten, dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und der Katastrophenhilfe hervorragende Institutionen aufgebaut, um sich in internationalen Krisen humanitär zu engagieren. Dieses Engagement war nur möglich, weil sie immerwährend neutral war.
Die Schweizer Bevölkerung besitzt mit der direkten Demokratie ein Mittel, um das ganze Gefüge, falls es aus dem Gleichgewicht kippt, wieder ins Lot zu bringen. Das war etwa der Fall, als unsere Exekutive (Bundesrat) zu Beginn des Zweiten Weltkrieges ein sogenanntes „Vollmachtenregime“ einführte und mit Notrecht regierte. Die Bevölkerung musste nach dem Krieg mit einer Initiative dafür sorgen, dass die direkte Demokratie vollumfänglich wieder eingeführt wurde.
UT24: Die Neutralität der Schweiz wird oft als moralische und strategische Stärke betrachtet. Inwieweit könnte eine veränderte globale Machtstruktur diese Einschätzung infrage stellen?
Roca: Die Schweiz hat als neutraler Staat völkerrechtliche Rechte und Pflichten, zum Beispiel darf sie keinem militärischen Bündnis beitreten. Dieses Neutralitätsrecht ist in diversen Verträgen verankert (z.B. Haager Abkommen von 1907). Selbst wenn sich nun die globale Machtstruktur ändert, sollte die Schweiz am Neutralitätsrecht festhalten und sich nicht wie ein „Fähnchen im Wind“ für eine Seite entscheiden.
Das ist nicht immer angenehm, weil man sich so Anfeindungen aussetzt. Mit der Übernahme der EU-Sanktionen im Ukraine-Krieg hat die Schweizer Regierung ihrer Neutralität die Grundlage entzogen. Deshalb haben nun besorgte Bürgerinnen und Bürger die Neutralitätsinitiative lanciert, um die Neutralität unmissverständlich in der Bundesverfassung zu verankern. Das Mittragen von solchen Sanktionen wäre dann nicht mehr möglich.
UT24: Angesichts der sich verschärfenden geopolitischen Konkurrenz zwischen großen Mächten: Sollte die Schweiz proaktiver in diplomatischen Bündnissen auftreten, um ihre Neutralität langfristig zu sichern?
Roca: Ja, die Schweiz sollte proaktiver in der UNO und der OSZE auftreten, um Konflikte zu entschärfen und ihre Neutralität langfristig zu sichern. Die Neutralitätsinitiative fordert im letzten, vierten Abschnitt genau das: „Die Schweiz nutzt ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.“
René Roca, Experte für schweizerische Neutralitätspolitik und Leiter des Forschungsinstituts direkte Demokratie (www.fidd.ch)
UT24: Welchen Einfluss könnte die zunehmende Bedeutung von supranationalen Organisationen auf die Neutralitätspolitik der Schweiz haben, insbesondere in Bezug auf den internationalen Handel und Sicherheitsfragen?
Roca: Die Schweiz steht von verschiedenen supranationalen Organisationen unter Druck. So von der Europäischen Union (EU), die in Europa eine Armee aufbauen will. Die Schweiz wird gedrängt mitzumachen, auch von politischen Kreisen im eigenen Land.
Davon sollte sie sich aber distanzieren und dafür sorgen, dass sie mit der eigenen Armee das Land glaubwürdig verteidigen kann, eben wie es die immerwährende und bewaffnete Neutralität verlangt und wie es auch in der Bundesverfassung verankert ist. Auch die NATO drängt auf mehr Kooperation. Mit der Mitgliedschaft bei der sogenannten „Partnership for Peace“ (PfP) sitzt die Schweiz bereits im „Vorzimmer“ der NATO.
UT24: Wie stehen Sie zu der Möglichkeit, dass eine stärkere politische Integration der Schweiz in internationale Wirtschaftsorganisationen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) oder die Weltbank die Neutralität gefährden könnte?
Roca: Die Schweiz ist bereits Mitglied des IWF und der Weltbank. Grundsätzlich muss der Staat neutral sein und nicht die Wirtschaft. Aber die Wirtschaft sollte mithelfen, dass die politische Neutralität glaubwürdig bleibt. Da gäbe es auch in der Schweiz einiges zu verbessern (Waffenausfuhr, Geldwäscherei usw.).
UT24: Welche langfristigen Konsequenzen könnte eine mögliche Neuausrichtung der schweizerischen Neutralitätspolitik für die Stabilität der Schweiz selbst und der internationalen Ordnung haben?
Roca: Die Neuausrichtung der schweizerischen Neutralitätspolitik ist in vollem Gange. Mit der weiteren Annäherung an die EU und an die NATO (z.B. Sky Shield) verliert die Schweiz zunehmend an Einfluss und das humanitäre Engagement kommt unter Druck (z.B. das IKRK). Um das wieder ins Lot zu bringen, wurde die genannte Initiative lanciert.
René Roca, Experte für schweizerische Neutralitätspolitik und Leiter des Forschungsinstituts direkte Demokratie (www.fidd.ch)
UT24: Inwieweit könnte der Druck von EU-Ländern auf die Schweiz, bestimmte politische oder wirtschaftliche Positionen zu übernehmen, zu einem schleichenden Verlust der Neutralität führen?
Roca: Der Druck von EU-Ländern wird immer größer und höhlt die Neutralität immer mehr aus. Das zeigt sich auch beim Thema Waffenlieferungen. Die Schweiz besitzt ein strenges Waffenausfuhrgesetz, das im Grunde weiter verschärft werden sollte. Im Moment passiert aber genau das Gegenteil, das Gesetz wird zunehmend aufgeweicht, damit auch die Schweiz Waffen in Konfliktgebiete liefern kann. Für die Neutralität ist das verheerend!
UT24: Wie beurteilen Sie die Rolle der Schweiz bei der Vermittlung in Konflikten, wenn diese Vermittlung den Anschein erweckt, dass sie eine parteiische Position einnimmt?
Roca: Die Schweiz muss strikt bei der Vermittlung von Konflikten ihre Neutralität wahren. Wenn sie nur den leisesten Anschein erweckt, eine parteiische Position einzunehmen, verspielt sie jeglichen Kredit. Das ist nun mit der Bürgenstock-Konferenz geschehen. Sie hat einseitig die Position der Ukraine übernommen und Russland gar nicht eingeladen, weshalb das Treffen, das Millionen gekostet hat, völlig wirkungslos blieb.
UT24: Inwieweit könnte die wachsende europäische Integration und die Schaffung neuer supranationaler Strukturen die Schweiz zwingen, ihre traditionelle Neutralitätspolitik zu überdenken oder anzupassen?
Roca: Wie bereits ausgeführt, muss die Schweiz sehr aufpassen, dass sie bei einer wirtschaftlichen Integration die Wahrung ihrer Souveränität beachtet. Diese Schritte dürfen auch die direkte Demokratie in keiner Weise schmälern. Sie darf also etwa nicht EU-Recht automatisch übernehmen. Nur so kann sie die Neutralität bewahren und diese wieder stärken.
René Roca bei einer Tagung in Escholzmatt – Bild: www.fidd.ch
UT24: Falls Südtirol tatsächlich durch die zielgerichtete Anwendung einer direkten Demokratie eine stärkere Autonomie oder Unabhängigkeit anstrebt, wie könnten solche Bestrebungen die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien belasten oder beeinflussen? Oder andersrum: Die Ergebnisse des Autonomiekonvents, ein Format der direkten Demokratie, sind in den Schubladen der ranghohen Politikerkaste verschwunden ... warum?
Roca: Das ist grundsätzlich eine Angelegenheit unseres Nachbarlandes Italien. Schweizer Bürger könnten hier allenfalls mit ihren Erfahrungen mithelfen und ein Forum für Gespräche anbieten. Diesbezüglich hielt ich im Rahmen meines Forschungsinstituts vor einigen Jahren einen Vortrag in Bozen.
UT24: Wie stehen Sie zu der Möglichkeit, dass ein erfolgreicher Unabhängigkeitsprozess in Südtirol Präzedenzfälle für andere autonome oder separatistische Bewegungen in Europa schaffen könnte?
Roca: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist sehr grundlegend. Bei den diversen autonomen oder separatistischen Bewegungen in Europa ist darauf zu achten, dass in einem gewaltfreien und demokratischen Prozess unter Einbezug der kulturellen, sprachlichen und historischen Gegebenheiten freiheitliche Lösungen gefunden werden.
UT24: Welche Risiken sehen Sie für die schweizerische Neutralität, wenn die Schweiz öffentlich ihre Unterstützung für die Selbstbestimmungsbewegungen in Südtirol oder anderen Regionen zeigt? Und ist ein Kanton Südtirol innerhalb der Schweiz, wie von einigen angedacht, überhaupt realistisch?
Roca: Der schweizerische Bundesstaat kann in diesen Angelegenheiten aus Gründen der Neutralität keine Stellung beziehen und schon gar nicht für eine Unterstützung öffentlich eintreten.
UT24: Wenn Südtirol eine engere Zusammenarbeit mit der Schweiz suchen würde, welche politischen und rechtlichen Hürden sehen Sie für eine solche Partnerschaft, die möglicherweise die Neutralität der Schweiz infrage stellen könnte?
Roca: Eine engere Zusammenarbeit in wirtschaftlichen Belangen ist problemlos.
René Roca, Experte für schweizerische Neutralitätspolitik und Leiter des Forschungsinstituts direkte Demokratie (www.fidd.ch)
UT24: Welchen langfristigen Einfluss könnte die Unterstützung oder Nicht-Unterstützung von Selbstbestimmungsbewegungen durch die Schweiz abschließend auf das Vertrauen in die Neutralität des Landes auf internationaler Ebene haben? Das Recht auf Selbstbestimmung kommt doch dem Beispiel par excellence, die direkte Demokratie betreffend, sehr nahe...
Roca: Die Schweiz sollte sich nicht auf eine Seite schlagen, dann wären viele Dinge möglich. In diesem Zusammenhang wäre auch eine Belebung der Blockfreien-Bewegung angesagt, unter anderem angesichts der zunehmenden Polarisierung in der Welt (vgl. auch den KSZE-Prozess).
Letztlich stehen wir bereits wieder in einem neuen „Kalten Krieg“. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Schweizer Bevölkerung die Neutralitätsinitiative annehmen wird und so unsere Neutralität wieder die nötige Glaubwürdigkeit erhält. Dann erhalten auch wieder die Guten Dienste der Schweiz das nötige Echo.
UT24: Danke für das Gespräch!
Das Interview führte Andreas Raffeiner