„Wir sind keine Sprachschule“ –Kurswechsel an deutschen Schulen gefordert

Es war kein gewöhnlicher Abend im Stadtviertel Gries. Mehr als hundert Menschen folgten der Einladung der SVP-Ortsgruppe, um über die Zukunft der deutschen Schule in Südtirol zu sprechen. Im Zentrum der Veranstaltung stand das erste Zwischenergebnis der eigens eingesetzten SVP-Arbeitsgruppe. Die Zahlen und Berichte aus Bozen und anderen Städten machen deutlich: Es besteht akuter Handlungsbedarf – nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch auf politischer Ebene.
„Wir sind keine Sprachschule“ – ein Satz, der hängenbleibt
Gleich zu Beginn der Veranstaltung wurde klar: Die deutsche Schule wird zunehmend zur Belastungsprobe – für Eltern, Lehrer und vor allem für die Kinder. Immer wieder fiel dabei ein Satz mit Nachdruck: „Wir sind keine Sprachschule, sondern eine deutschsprachige Schule.“ Gemeint war damit nicht Ablehnung gegenüber Mehrsprachigkeit – sondern der Ruf nach klaren Strukturen. Die Realität: Immer mehr Kinder kommen ohne ausreichende Deutschkenntnisse in den Kindergarten oder die Grundschule. Die Folgen sind Überforderung auf allen Seiten.
Wenn Kinder sich ihre Freunde basteln müssen
Besonders eindrücklich war der Erfahrungsbericht einer Mutter, deren Tochter als beinahe einziges deutschsprachiges Kind in einem Bozner Kindergarten war – unter über 150 Kindern. „Nach einem halben Jahr kam sie mir entgegen und sagte: ‚Mama, ich habe mir einen Freund gebastelt.’“ Ein Satz, der im Saal für spürbares Schweigen sorgte. Die Isolation, das Fehlen sprachlicher und sozialer Anschlussmöglichkeiten – all das zieht sich wie ein roter Faden durch viele Lebensrealitäten in Südtirols Landeshauptstadt.
Lehrer an der Belastungsgrenze: „Das ist kein Regelunterricht mehr“
Auch Lehrer meldeten sich zu Wort – deutlich und mit Nachdruck. Helga Tschörner, Lehrerin an der Grundschule Gries, berichtete von einem Alltag, der längst über das übliche Maß hinausgeht: 22 Klassen, zu wenig Räume, ständig neue Kinder ohne Sprachkenntnisse. In vielen Klassen seien kaum noch Kinder mit deutscher Muttersprache zu finden. Der Alltag der Lehrpersonen bestehe aus Improvisation, Aufteilen von Förderstunden, Einzelunterricht auf dem Gang, fehlender Stabilität. „Wir sind eine deutschsprachige Schule, keine Sprachschule“, so Tschörner. „Wenn die Hälfte der Kinder kein Deutsch versteht, können wir keinen Regelunterricht mehr machen.“
Zu viele Kinder ohne Grundwortschatz, zu wenig Struktur
Lehrer kritisieren seit Jahren, dass Einschreibungen zu oft ohne echte Prüfung des Sprachstands erfolgen. Die Arbeitsgruppe fordert deshalb, dass Einschreibungen in den Kindergarten künftig nicht mehr ausschließlich online erfolgen, sondern wieder im direkten Gespräch – mit einer ersten mündlichen Einschätzung. Dazu brauche es eine verpflichtende, einheitliche Sprachstandserhebung, die bereits im Kindergarten erfolgt. Gerade das verpflichtende letzte Kindergartenjahr müsse als gezielte Vorbereitung verstanden werden – im Sinne einer „Vorschule“ mit klarem Sprachfokus, nicht nur als Betreuungszeit.
Eine Kommission soll über Einschreibungen entscheiden können
Wenn Eltern gegen Empfehlungen darauf bestehen, ihr Kind in eine deutsche Schule einzuschreiben, obwohl die sprachlichen Grundlagen nicht gegeben sind, soll die Paritätische Kommission entscheiden können. Diese setzt sich paritätisch aus Vertretern der deutschen und italienischen Schulämter zusammen – sie soll verbindlich darüber befinden dürfen, ob eine Einschreibung sinnvoll ist. Ziel sei es nicht, Kinder auszuschließen, sondern ihnen frühzeitig einen realistischen Weg aufzuzeigen, bevor sie an der Sprachhürde scheitern.
Deutschsprachige Kinder sollen Vorrang erhalten – in Kindergarten und Schule
Derzeit kommt es immer häufiger vor, dass deutschsprachige Kinder keinen Platz im deutschen Kindergarten bekommen, während Kinder, die zu Hause kein Wort Deutsch sprechen, eingeschrieben werden. Die Arbeitsgruppe fordert hier einen klaren Vorrang für deutschsprachige Kinder – auch in der Grundschule. Selbst wenn sie nicht im direkten Einzugsgebiet wohnen, sollen sie aufgenommen werden können, wenn dort Plätze frei sind. Die deutsche Sprache müsse als besonders schützenswert gelten – gerade in einem italienisch dominierten Umfeld.
Sprachförderung nach realem Bedarf, nicht nach Herkunft
Ein zentraler Punkt betrifft die Zuteilung von Sprachförderstunden. Derzeit erfolgt diese vielfach pauschal – etwa nach Migrationshintergrund. Das greift laut der Arbeitsgruppe zu kurz. Migrantenkindern, die die italienische Staatsbürgerschaft haben, werden aktuell z.B. keine Förderstunden zugewiesen. Dasselbe gilt für italienischsprachige Kinder in der deutschen Schule. Entscheidend müsse deshalb ausschließlich der tatsächliche Sprachstand sein. Gleichzeitig müssten die bestehenden Förderstrukturen dauerhaft und planbar sein – mit ausreichend Personal, klarer Verantwortung und kontinuierlicher Unterstützung.
Netzwerke zwischen Kindergarten und Grundschule
Der Übergang vom Kindergarten in die Schule müsse fließender verlaufen. Kinder mit Förderbedarf sollen nicht im ersten Schuljahr wieder bei null anfangen, sondern durch enge Kooperation zwischen Kindergarten und Schule nahtlos weiter begleitet werden. Dazu brauche es verlässliche Netzwerke und strukturierte Übergabegespräche.
Klassengrößen reduzieren, Deutschanteil sichern
In Bozen und anderen Städten seien viele Klassen so groß, dass gezielte Förderung kaum noch möglich ist. Die Arbeitsgruppe fordert daher, die Maximalgröße auf 20 Kinder zu senken – analog zur bereits erfolgten Reduktion im Kindergarten. Wo nur wenige deutschsprachige Kinder eingeschrieben sind, sollen diese nicht auf verschiedene Klassen verteilt, sondern bewusst zusammengefasst werden, um eine Mindestbasis für sprachliche Interaktion zu schaffen. In Klassen, wo kaum noch Deutsch gesprochen wird, komme es ansonsten zu einem völligen Sprachverlust. Deshalb schlägt die Arbeitsgruppe auch eine Quote für den maximalen Anteil nicht-deutschsprachiger Kinder pro Klasse vor – wünschenswert seien maximal 40 Prozent.
Vorbereitung statt Überforderung: Orientierungsklassen
Neu zugezogene Kinder ohne Deutschkenntnisse sollen nicht mehr direkt in die Regelklassen eingeschult, sondern zunächst in sogenannten Orientierungsklassen sprachlich vorbereitet werden. Diese könnten zentral an bestehenden Schulen eingerichtet werden. Erst nach einer gezielten Einführung sollen die Kinder schrittweise in Regelklassen integriert werden.
Keine Blockade beim Schulwechsel
Wenn ein Kind mit dem Unterricht nicht zurechtkommt und ein Wechsel in die italienische Schule angezeigt ist, darf dies nicht am Widerstand italienischer Schuldirektionen scheitern. Mehrfach sei es dazu gekommen, dass Schulwechsel verweigert wurden mit dem Hinweis auf Platzmangel. Hier brauche es eine klare gesetzliche Regelung, um diesen Weg offen zu halten – aus pädagogischen, nicht aus politischen Gründen.
Zulagen für Lehrer in Brennpunktschulen
Lehrkräfte an besonders belasteten Schulen sollen eine finanzielle Zulage erhalten. Die pädagogische Mehrarbeit, die Arbeit mit sprachlich unvorbereiteten Schülern und der ständige Umgang mit neuen Herausforderungen müsse auch wirtschaftlich anerkannt werden. Solche Schulen könnten nicht wie „normale“ Schulen behandelt werden, betonte die Arbeitsgruppe.
„DAZ“ verpflichtend an der Universität
Auch die Ausbildung müsse sich verändern. Die Arbeitsgruppe fordert, dass an der Universität Brixen das Fach „DAZ – Deutsch als Zweitsprache“ verpflichtender Bestandteil der pädagogischen Ausbildung wird. Wer in Südtirol unterrichtet, brauche Kenntnisse im Umgang mit Kindern, die Deutsch erst lernen – ob im Kindergarten oder in der Grundschule.
Ein Thema mit Sprengkraft – aber auch mit Potential
Die Diskussion verlief teils emotional, aber stets sachlich. Dass es sich um ein brisantes Thema handelt, wurde von allen Seiten eingeräumt. Gerade deshalb, so Harald Stauder, sei es wichtig, die Debatte in geordneten Bahnen zu führen: „Wir müssen die Schule stärken, nicht polarisieren. Wir dürfen keine Politik auf dem Rücken der Kinder machen.“
Er betonte, dass auch die italienische Schule stärker eingebunden werden müsse. Viele italienische Familien würden ihre Kinder in die deutsche Schule schicken, weil sie dort bessere Sprachkompetenz erwarten. Dies erhöhe den Druck zusätzlich. Dabei gebe es bereits innovative Modelle innerhalb der italienischen Schule, die man stärker bewerben müsse.
In vielen Wortmeldungen wurde deutlich, dass die Situation nicht erst seit gestern eskaliert – sondern seit Jahren bekannt ist. Kritik wurde dabei auch an der Landespolitik nicht ausgespart. Mehrere Teilnehmer äußerten Unverständnis darüber, dass trotz wiederholter Hinweise keine grundlegenden Reformen eingeleitet wurden.
„Diese Maßnahmen kommen fünf nach zwölf“, so eine ehemalige Schulführungskraft, die bereits vor Jahren ein Schreiben mit Vorschlägen an den damaligen Landesrat übergeben hatte – ohne nachhaltige Wirkung. Auch Landesrat Achammer wurde kritisiert: „Wir haben ihm mehrfach Vorschläge gemacht, die Situation war ihm bekannt – passiert ist viel zu wenig.“
In seiner Replik untermauerte Stauder indirekt die Kritik: „Es ist einiges weitergegangen seit 2014. Es hat kleine Schritte gegeben, Sie haben es ja selbst schon gesagt. Es ist aber nichts Entscheidendes passiert und die Situation ist nicht besser geworden. Es hat kleine Schritte in die richtige Richtung gegeben, der Zug ist aber mit sehr großer Geschwindigkeit in die andere Richtung gefahren. Um es mal bildlich so auszudrücken.“
Ein weiterer Teilnehmer, Norbert Sparber, Autor des Werks „Minderheiten in Mitteleuropa“ fragte: „Warum können wir nicht – wie z.B. bei der dänischen Minderheit in Südschleswig – vorschreiben, dass Eltern die Sprache sprechen müssen, in welcher die Schule unterrichtet?“
Einigkeit in einem Punkt: Die Zeit des Wegschauens ist vorbei
Egal ob Eltern, Lehrer oder Politiker – in einem Punkt herrschte Einigkeit: Die derzeitige Situation in Bozen und anderen vorwiegend von Italienern besiedelten Gemeinden ist nicht mehr tragbar. Die Forderung nach klaren Regeln, sprachlicher Qualität und einer stärkeren Unterstützung der deutschsprachigen Schule wurde unmissverständlich artikuliert.
„Wenn wir jetzt nicht handeln“, so Stauder, „dann riskieren wir mittelfristig die Zukunft der deutschen Schule in Südtirol.“
Es brennt – aber es bewegt sich etwas
Die Veranstaltung war kein politischer Pflichttermin, sondern ein gesellschaftlicher Weckruf. Die Berichte waren eindringlich, die Forderungen klar. Es geht nicht um Ausgrenzung, sondern um den Erhalt der Muttersprache, um Bildungsqualität – und um das, was am Ende wirklich zählt: das Wohl der Kinder.






