von gk 24.10.2024 16:09 Uhr

Falsche Hoffnung Deutschland

Der junge Jörg Klotz steht vor einer Entscheidung, die das Schicksal seiner Familie und vieler anderer Südtiroler bestimmen wird: Gehen oder Bleiben? Die Südtiroler sollen zwischen zwei Diktaturen wählen: die vertraute Heimat aufgeben und ins Deutsche Reich umsiedeln oder in Südtirol bleiben und die faschistische Herrschaft Italiens hinnehmen. Eine Zeit geprägt von Propaganda, Angst und Gewissenskonflikten.

Benito Mussolini und Adolf Hitler, 1938 (Bild: Bundesarchiv, Wikimedia Commons)

Im nächsten Teil der Geschichte (hier gehts zum vorherigen Bericht) erfahren wir, wir es Georg Klotz während dieser schrecklichen Zeit in seiner Heimat erging und welche weiteren Wege er beschritt.

Jörg rechnet damit, wie seine älteren Brüder bald zum italienischen Heer eingezogen zu werden und im besten Fall irgendwo in Italien den Militärdienst ableisten zu müssen. Gefasst sein muss er auch, in einen der grausamen Unterdrückungsfeldzüge Mussolinis in Nordafrika geschickt zu werden. Doch es kommt alles ganz anders. Der Pakt zwischen Hitler und Mussolini zieht auch Südtirol in einen Strudel von unvorhersehbaren Ereignissen und Entscheidungen. Wer geglaubt hatte, Südtirol stehe dieser engen Freundschaft und dem Stahlpakt im Wege, hatte sich getäuscht, so wie sich die meisten Südtiroler in ihren Erwartungen getäuscht hatten. Die Faschisten konnten sich des Verzichts Hitlers auf Südtirol gewiss sein. Hätte es einer weiteren Versicherung bedurft, bekamen sie diese nach der Romreise Hitlers im Mai 1938. Bei diesem Staatsbesuch erklärt er:

„Es ist mein unerschütterlicher Wille und mein Vermächtnis an das deutsche Volk, dass es die von der Natur uns beiden aufgelegte Alpengrenze immer als eine unantastbare ansieht.“

Mussolini sieht die Gelegenheit gekommen, mit dem Südtirolproblem endgültig Schluss zu machen. Der alte Plan der gewaltsamen Aussiedlung der Tiroler südlich des Brenners wird nach den vergeblichen Entnationalisierungsmaßnahmen als einzig zielführender Weg erkannt. Die Ergebnisse der Italianisierung sind für die Faschisten auch nach fast 20 Jahren Knüppelherrschaft blamabel. Aus den Südtirolern konnten keine Italiener gemacht werden. Selbst die Zahl der assimilierungswilligen Opportunisten ist überraschend gering geblieben. Also beginnt man das zu tun, was Tolomei und andere schon seit langem vorhaben. Der italienische Außenminister und Mussolini-Schwiegersohn Graf Ciano bringt es auf den Punkt:

Da das Oberetsch geographisch gesehen italienisches Land ist, und Berge und Flüsse nicht versetzt werden können, müssen die Menschen verpflanzt werden.

Entsetzen bei der Bevölkerung

Von nationalsozialistischer Seite werden die Umsiedlungspläne bereitwillig aufgegriffen. Man glaubt daraus doppelten Nutzen ziehen zu können: eine mögliche Konfliktursache mit Italien aus dem Weg räumen und eine ganze Volksgruppe in die Hand bekommen, die für die Ostpolitik einsetzbar ist. Im Juni 1939 kommt es zur Ver­einbarung zwischen den italienischen und den reichsdeutschen Unterhändlern. Die Südtiroler sollen zwischen der deutschen und der italienischen Staatsbürgerschaft „optieren“, also „wählen“. Die Betroffenen selbst, die Südtiroler, werden nicht danach gefragt, was von dieser „Wahlmöglichkeit“ halten. Als die ersten Nachrichten über das Umsiedlungsabkommen durchsickern, herrscht in Südtirol Empörung und allgemeines Entsetzen. Die Entscheidung ist jedoch längst gefallen, und bald werden der Bevölkerung die endgültigen Richtlinien bekannt gegeben: Optionsfrist bis 31. Dezember 1939, 12 Uhr; Endfrist der Umsiedlung: 31. Dezember 1942. Wahlberechtigt sind alle Volljährigen. Für die Minderjährigen hat der Vater oder der gesetzliche Vormund zu entscheiden. Wer sich weder für Deutschland noch für Italien entscheidet, also gar nicht unterschreibt, bleibt italienischer Staatsbürger. Auch die Entscheidungssumme für Besitz wird festgelegt. Italien nimmt sie für die endgültige Lösung dieses leidigen Problems in Kauf.

Die Südtiroler geraten in eine furchtbare Zwangslage und Gewissensnot. Einen Ausweg gibt es nicht. Sie müssen sich zwischen zwei Diktaturen entscheiden. Optieren sie für Deutschland, haben sie zwar die Gewähr, ihre Sprache und Kultur, die von den Faschisten all die Jahre unterdrückt worden war, beizubehalten. Dafür müssen sie Haus und Hof, Acker und Wald, ihren ganzen Besitz, also die Heimat aufgeben. Das bedeutet, all das verlassen zu müssen, was die Eltern und Vorväter in jahrhundertelanger harter Arbeit geschaffen und gepflegt haben. Entscheiden sie sich für Italien, so heißt das Verzicht auf die deutsche Sprache und Tiroler Kultur, man liefert sich den Faschisten gänzlich aus. Es besteht zwar die Hoffnung, Haus und Hof behalten zu dürfen, aber Garantie hat man dafür keine, man muss der Verpflanzung nach Süditalien gewärtig sein. Verschlimmert wird die seelische Not durch massiv einsetzende Propaganda beider Seiten. Es wird um jede Menge Stimme gerungen. Die Deutschland-Optanten denken an das Ergebnis der Volksabstimmung im Saarland, wo 1935 über 90 Prozent für die Vereinigung mit Deutschland gestimmt hatten. Wenn es in Südtirol einen ähnlich hohen Prozentsatz für Deutschland gäbe, sei Hitler gezwungen, Südtirol genauso „heimzuholen“ wie zuvor das Saarland! Die Anführer argumentierten damit, dass die Südtiroler bis dahin nur schlechte Erfahrungen mit Italien gemacht haben. Ihre Appelle, ein klares Bekenntnis für das unterdrückte Volkstum abzugeben, stößt auf fruchtbaren Boden. Es sei die langersehnte Gelegenheit, dem verhassten Italien vor aller Welt eine Absage zu erteilen. Gleichzeitig wird mit den Aussichten der geschlossenen Ansiedlung im Reich sowie mit der Hoffnung auf die siegreiche Beendigung des Krieges und die Aufhebung der Brennergrenze geworben.

Eine Propagandawelle rollt über das Land

Auf der anderen Seite scharen sich Leute aus dem Klerus, dem altösterreichisch gesinnten Adel und dem liberalen Besitzbürgertum und den Kreis des Kirchenmannes Michael Gamper und der konservativ-katholisch gesinnten Persönlichkeiten. Sie werben mit bescheidenen Mitteln für das „Bleiben“, also gegen die Option für Deutschland. Ihre Gründe für das „Bleiben“ sind weltanschaulicher Natur und die sich daraus ergebende Gegnerschaft zum Nationalsozialismus. Sie argumentieren mit der Unmöglichkeit einer geschlossenen Ansiedlung von über 200.000 Menschen und mit der ungewissen Zukunft im Reich infolge des vorhersehbaren Krieges. Schließlich appellieren sie an die Verbundenheit des Tirolers mit seiner Heimat und an den Optimismus, das deutsche Volkstum auch in Italien erhalten zu können. Aber sie bleiben ein kleiner Kreis, während die Zahl der Deutschland-Optanten rapide zunimmt. Sie werden dadurch bestärkt, dass faschistische Funktionäre ankündigen, die im Land verbleibenden Südtiroler würden nach Sizilien oder in die italienischen Kolonien umgesiedelt.

Über das ganze Land rollt eine bis dahin nicht gekannte Propagandawelle. In jedem Dorf, jedem Weiler werden Versammlungen abgehalten, in denen mit gegenseitigen Vorwürfen und Anfeindungen nicht gespart wird. Die Auseinandersetzung in der angespannten und oft verzweifelten Situation schlägt tiefe Wunden. Besonders dort, wo die „Bleiber“ einen starken Mittelpunkt haben, wie in Walten. Dort geht der „Herr Jörgl“ von Haus zu Haus, um seine Pfarrkinder vor einem großen Fehler zu bewahren, wie er meint. Eindringlich warnt er vor den Verlockungen und Versprechungen des menschenverachtenden Hitlerregimes. Er wirbt für das Bleiben und Ausharren. Gegen seine Argumente ist schwer anzukommen. Man weiß genau, dass der „Herr Jörgl“ alles andere als ein Italienerfreund ist. Er ist Tiroler durch und durch, die Faschisten haben in ihm den erklärtesten Widersacher. Er versucht vor allem den Bauern ins Gewissen zu reden. Sie seien ihren Vätern das Ausharren schuldig, denn diese hätten nie ihre Heimat aufgegeben oder verlassen, auch nicht angesichts der Bedrohung durch die napoleonische Übermacht. Heiliger Zorn spricht aus ihm, wenn er versucht, seinen Pfarrkindern die wahren Absichten des Gauvergespanns Hitler-Mussolini darzulegen. Doch das alles lässt die meisten in Walten zu weit weg von den täglichen Drangsalen, Ängsten und Nöten. Zu gegenwärtig sind die Schrecken der italienischen Herrschaft, zu frisch die Wunden der Erniedrigung, zu schmerzhaft empfinden die Beraubung und Schändung intimster Werte.

Geht er, der Schmied, oder bleibt er?

Der „Herr Jörgl“ kommt mehrmals auch ins Schmiedhaus. Er versucht auf den Hausvater einzureden. Der aber hat längst entschieden. Die ganze Familie optiert für Deutschland. Was nützen die Erinnerungen an das stolze Schützenwesen, an die schönen Herz-Jesu-Feier früherer Jahrzehnte. Solange die Italiener im Land etwas zu sagen hätten, würde es so bleiben! Walten hat aber einen verhältnismäßig hohen Anteil an Dableibern und Nichtoptanten, also solchen, die überhaupt nicht entscheiden. Ungewöhnlich viele machen also von der Möglichkeit Gebrauch, im letzten Moment noch umzuoptieren. Manche optieren auch mehrmals um. Daraus erahnt man, wie schwer die Entscheidung fällt: die Überzeugung des angesehenen Priesters auf der einen Seite, die Erfahrungen mit dem Faschismus und das Misstrauen gegen Italien auf der anderen.

Beschwerliche Umsiedelung

Insgesamt optieren bis zum Stichtag 31. Dezember 1939 ca. 89% der Wahlberechtigten in ganz Südtirol für Deutschland. Im Frühjahr 1940 verlässt täglich ein Zug mit Umsiedlern den Bozener Bahnhof. Als erste trifft es die Tagelöhner und Familien ohne Grundbesitz sowie Arbeiter und andere Besitzlose aus den Städten. Aus den Bergdörfern wandern Kleinbauern mit ihren Familien ab, denen die Schulden Haus und Hof aufgefressen haben. Im hintersten Passeiertal gehen sie über das verschneite Timmelsjoch ins Ötztal, wo sie bei Verwandten oder Bekannten Aufnahme finden. Viele Bauern von diesseits und jenseits des Timmelsjochs kennen einander, weil es bis zur Abtrennung Südtirols einen regen wirtschaftlichen Austausch gegeben hat. Viele Ötztaler Bauern besitzen Almen oder Weiderechte auf der Passeirer Seite und umgekehrt die Passeirer auf der Ötztaler Seite. Es gibt bei dieser Abwanderung erschütternde Szenen. In stundenlangen Märschen und bei Schneetreiben gehen die Leute über die steilen, oft vereisten Hänge hinüber ins Ötztal. Die Kleinkinder werden in Betten oder Decken gewickelt und gut vermummt im Buckelkorb getragen. Die nicht mehr gehfähigen oder gesundheitlich geschwächten Familienmitglieder müssen in langen und umständlichen Fahrten versuchen, dorthin zu gelangen. Was man nicht tragen oder mitschleppen kann, bleibt in den armseligen Häusern und Holztruhen zurück.

Im ersten Jahr ist die Anzahl derer, welche die Heimat verlassen, am größten. Dann wird sie geringer, und allmählich kommt die Umsiedlung ganz ins Stocken. Abgesehen davon, dass sich die Schätzung und Auszahlung der Vermögenswerte schwierig gestaltet, verzögern viele mit dem Verwaltungsablauf betraute Stellen in Südtirol die Prozeduren auch absichtlich. Man beginnt den gewaltigen Aderlass und dessen gefährliche Folgen zu spüren. Der für Deutschland ungünstige Kriegsverlauf kommt der Verzögerung zu Hilfe. Endgültig gestoppt wird die Umsiedlungsaktion mit dem Sturz Mussolinis im Juli 1943 und dem Wechsel Italiens auf die Seite der Alliierten. Es ist eine glückliche Fügung, dass nur ein Drittel vom Los der Auswanderung betroffen ist. Die Volksgruppe wird zwar geschwächt, aber sei bleibt erhalten. Insgesamt sind ca. 80.000 Südtirol abgewandert, ungefährt25.000 davon kehren nach 1945 wieder nach Südtirol zurück. Das demokratische Italien lässt die Rücksiedlung nur äußerst widerwillig und tröpfchenweise zu, versucht sie überhaupt zu verhindern.

Wende für die Optantenfamilien: Deutsche Schule und Dienst in der deuschen Wehrmacht

Die Option bringt einen Wendepunkt im Leben vor allem der jungen Menschen. Im Gegensatz zu den Dableiberkindern müssen die Optantenkinder nicht mehr in die italienische Schule. Für sie werden deutsche Sprachkurse organisiert. Weil Lehrkräfte fehlen, werden vor allem junge Mädchen in großer Eile für den Unterricht ausgebildet. Sie nehmen lange Fußmärsche auf sich, um zu den Schulungen zu gelangen. Mit Begeisterung und Idealismus bauen diese Hilfslehrerinnen und -lehrer das Schulwesen in der Muttersprache wieder auf und versuchen wenigstens einen Teil der Lücken zu schließen, welche die Entnationalisierungspolitik hinterlassen hat. Was die Faschisten an den Kindern früherer Jahrgänge in kultureller und sprachlicher Seite verbrochen haben, können sie nicht mehr gutmachen. Die neu eingeschulten Kinder jedoch erleben Normalität. Mit äußerst bescheidenen Mitteln gelingt es den jungen Lehrerinnen und Lehrern, wieder Sprache und kulturelle Heimat zu vermitteln.

Die jungen wehrtüchtigen Männer, die durch die Option deutsche Staatsbürger geworden sind, müssen ab sofort nicht mehr zum italienischen Militär, sondern werden automatisch zum deutschen Heer einberufen. Jörg geht persönlich zu einem der Optantenführer nach Meran, um sich zu informieren. Mit solchen Dingen kann er nicht mehr zum „Herrn Jörgl“ kommen. Optiert hat für den noch nicht Volljährigen der Vater, und zwar lange vor Ablauf des gesetzten Termins. Alles andere erledigt und entscheidet der junge Schmied aber selbst. Er will kämpfend dazu beitragen, dass Südtirol von den italienischen Besatzern befreit und mit dem übrigen Tirol wiedervereint wird. Er meldet sich freiwillig zum Dienst in der deutschen Wehrmacht. In Meran findet er großes Entgegenkommen und kameradschaftliche Aufnahme. Es herrschen Aufbruchstimmung und Optimismus, überall stößt Jörg auf Gleichgesinnte.

Fortsetzung folgt…

Der obige Auszug stammt aus dem Buch „Georg Klotz – Freiheitskämpfer für die Einheit Tirols“, der Biografie von Dr. Eva Klotz über ihren Vater.

Klotz, Eva: Georg Klotz. Freiheitskämpfer für die Einheit Tirols. Eine Biografie. Neumarkt an der Etsch: Effekt Verlag. 2002. ISBN: 3-85485-083-2

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