von gk 15.10.2024 11:07 Uhr

Zerrissenes Tirol: Der Vertrag von Saint-Germain

Im Buch von Eva Klotz über ihren Vater lesen wir auch von jener schicksalhaften Zeit, als Südtirol dem italienischen Staat einverleibt wurde. Am 10. September 1919 fällt in Saint-Germain eine historische Entscheidung: Tirol wird geteilt und der südliche Teil geht an Italien. Für die Bewohner des kleinen Bergdorfes Walten und ganz Südtirol bedeutete dies den Beginn einer Zeit des Umbruchs, von Identitätsverlust, Widerstand und kulturellem Überlebenswillen, während Italien seine Italianisierungspolitik erbarmungslos vorantreibt.

Österreichische Delegierte für die Vertragsverhandlungen unter der Führung von Karl Renner (Bild: Wikicommons, Quelle unbekannt).

Im zweiten Teil der Geschichte über Georg Klotz (hier gehts zum ersten Teil) tauchen wir ein in die Geschichte, die sein Heimatdorf und seine Kindheit prägten.

Georg Klotz, von Angehörigen und Freunden Jörg genannt, wird am 11. September 1919 als jüngstes der acht Kinder des Schmiedes Anton Klotz und dessen Frau Rosa im kleinen Bergdorf Walten geboren. Walten ist ein Streu- und Straßendorf und liegt am alten Handelsweg unterhalb des Jaufenpasses, der in Urzeiten große Bedeutung hatte. Es war die wichtigste und kürzeste Verbindung zwischen Meran und Sterzing und nach Innsbruck. Das eigentliche Zentrum mit Kirche besteht bis in jüngerer Zeit herauf nur aus einigen wenigen Häusern. Der Großteil der Bauernhöfe in steiler Hanglage befindet sich in Außerwalten, unterhalb und oberhalb der Jaufenstraße gelegen. In Innerwalten liegen die größten und ertragreichsten Höfe. Die „Sagstatt“, benannt nach dem alten mit Wasserkraft betriebenen Sägewerk, ist von jeher das Gewerbegebiet des Dorfes. Dort haben der Sagschneider, der Schmied, der Faßbinder und der Schuster ihre Werkstätten. Zu Walten gehört auch das landschaftlich besonders schön gelegene Anwesen St. Johann in Wans. Ein stattlicher Bauernhof mit Eigenkirche, in dem früher zu Gericht gesessen wurde.

Als Jörg an jenem 11. September 1919 im Schmiedhaus zur Welt kommt, weiß man dort noch nichts vom Geschehen einigen Stunden zuvor. Die Mächtigen der Welt hatten Entscheidungen getroffen, die auch das Leben im 400-Seelen-Dorf Walten, auf 1250m über dem Meeresspiegel, einschneidend verändern. Man kann nicht wissen, dass für die Südtiroler mit dieser Entscheidung ein langer und bitterer Leidensweg beginnen wird. Die Leute haben bis dahin zwar auch ein karges Leben gehabt, die steilen Äcker und Felder geben nichts Übriges her, und auch mit Handel und Handwerk kann man die meist kinderreichen Familien gerade noch ernähren. Der Erste Weltkrieg hat zudem allen nicht nur wirtschaftliche, sondern auch menschliche Opfer abverlangt, fast in jedem Haus gibt es einen Gefallenen oder Vermissten zu beklagen. In Jörgs Familie ist der Brudes des Vaters in Galizien vermisst. In ganz Tirol, in der ganzen Monarchie, in ganz Europa herrscht Not. Das Land zwischen dem Brenner und Salurn, das südliche Tirol, ereilt aber noch ein ganz anderes Schicksal.

  • Kaiser Karl I. besucht die Front im Südtiroler Fleimstal (Bild: Wikicommons, Österreichische Nationalbibliothek).

Was war tags zuvor, am 10. September 1919, geschehen?

Die Friedensmächte hatten an diesem Tag in Saint-Germain bei Paris die Zerreißung des Landes Tirol und die Angliederung des südlichen Teils an den Staat Italien beschlossen. Als man in Tirol davon erfährt, kann man es nicht glauben, hatte man doch bis zum Schluss gehofft, der amerikanische Präsident Wilson werde ein solches Unrecht nicht zulassen. Er hatte seine 14 Punkte, nach denen der Frieden in Europa wiederhergestellt werden sollte, aller Welt verkündet. Der zentrale Punkt sah das Selbstbestimmungsrecht der Völker vor. Es sollte nicht mehr zugelassen werden, dass man Völker von Staat zu Staat verschachert. Jedes Volk sollte selbst über sein künftiges Schicksal in einer freien Abstimmung entscheiden können. Und was Italien anbelangt, hatte Wilson die Berichtigung der Grenzen „nach den klar erkennbaren Linien der Nationalität“ vorgesehen. Die Sprachgrenze war die Salurner Klause. Präsident Wilson brach seine Prinzipien und stimmte den Versprechungen zu, welche Frankreich und England in einem Geheimabkommen Italien bereits im Jahr 1915 für seinen Bündnisbruch mit Österreich-Ungarn und seinen Wechsel zu den Alliierten gegeben hatten. Dafür hatten sie Italien unter anderem Südtirol bis zum Brenner zugesichert, jahrhundertealtes deutschsprachiges Kulturgebiet, das Herzstück Tirols.

Im Mai 1915 war Italien in den Krieg eingetreten, was zur Folge hatte, dass für Österreich-Ungarn eine neue Kriegsfront entstand: die Front in Fels und Eis, die von den Tirolern, von österreichischen und bayerischen Truppen in einem drei Jahre dauernden blutigen Ringen tapfer gehalten werden konnte. Bis zum Kriegsende war es keinem italienischen Soldaten gelungen, seinen Fuß auf Tiroler Boden zu setzen. Italien hatte hohe Verluste. Deshalb war der Londoner Geheimvertrag von der italienischen Regierung vor dem eigenen Volk verheimlicht worden. Es war ein Krieg, der jene Prinzipien verriet, kraft welcher Italien selbst 50 Jahre vorher als Staat entstanden war: die Prinzipien des Risorgimento, des Wiedererstehens. Diese Idee, wonach jedes Volk seine politische Zukunft selbst bestimmten können muss, hatte aus einer Vielzahl von Kleinstaaten, die zum Großteil unter fremder Herrschaft standen, Italien zu einem einheitlichen Staat gemacht. Wie hätte man dem italienischen Volk erklären sollen, dass es seine Männer in einen grausamen Krieg schicken würde, um fremdes Land zu erobern, auf welches Italien keinen Anspruch geltend machen konnte. Man hätte erklären müssen, dass man aus rein imperialistischer Gier ein Volk zerreißen wollte, um einen Teil dem eigenen Staat einzuverleiben. Man hätte sagen müssen, dass dieses Volk eine andere Sprache und Kultur, andere Sitten und Gebräuche und eine andere Geschichte hat. Wie konnte die italienische Regierung diese hehren Ziele verraten?

Protest gegen die Annexion auch von italienischer Seite

Bald nach der Einigung Italiens hatte sich in politischen Kreisen ein Imperialismus herausgebildet, der den „sagro egoismo“, also den heiligen Egoismus für den eigenen Staat predigte. Das bedeutete, alles gutzuheißen und zu tun, was dem italienischen Staat nützt. Also auch Gebietszuwachs. Wichtig wurde das Argument, Italien brauche den Hauptkamm der Zentralalpen aus militärisch-strategischen Gründen. Im erbarmungslosen Stellungskrieg hatte sich in den Jahren 1915 bis 1918 gezeigt, dass auch die höchsten und schwierigsten Berge zum Kriegsschauplatz werden können.

Ein sozialistischer Abgeordneter nahm bei der Diskussion über die Annexion Südtirols im italienischen Parlament 1920 dieses Argument aufs Korn: „Ihr sagt, dass strategische Gründe Italien veranlassen, sich der Gewalt zu bedienen. Aber wenn es nach den Strategen ginge, müsste man den Mond erobern, um die Erde zu verteidigen.“ Auch andere sprachen sich gegen die Einverleibung Südtirols aus. Der Sozialistenführer Filippo Turati hatte in der römischen Kammer die Eingabe aller Südtiroler Gemeinden gegen die Angliederung an Italien und für die Einheit Tirols unter Österreich vorgelegt und die Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes auch für Tirol gefordert. Aber dieser Ruf verhallte, wie manch anderer auch. Die einsichtigen Stimmen waren im Propagandalärm der Kriegshetzer und Nationalisten untergegangen. Ihr Wortführer war Ettore Tolomei. Er erfand die raffiniertesten Methoden, um alles Tirolische auszumerzen, eine Italienität Südtirols vorzutäuschen, die es in Wirklichkeit nicht gab und die 240.000 Menschen deutscher und ladinischer Muttersprache, die unter italienische Herrschaft gekommen waren, zu quälen.

Ettore Tolomei und seine fanatische Italianisierungspolitik

Ettore Tolomei war ein italienischer Fanatiker aus dem Trentino, der es sich bereits als Student zur Lebensaufgabe gemacht hatte, die Grenze Italiens bis zum Brenner vorzuschieben und aus den Bewohnern dieses Landes mit allen Mitteln, notfalls mit Gewalt, Italiener zu machen. Mit diesem Werk begann er noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er gründete eine Wochenschrift mit dem Titel „La nazione italiana“, mit welcher er den Italienern das Gebiet zwischen dem Brenner und der Salurner Klaus, für welches er den Namen Alto Adige prägte, näherbringen wollte. Sein Betrugswerk begann er, indem er ein Ortsverzeichnis Südtirols hernahm und für bestehende Namen einen italienisch klingenden erfand und ihn an die Stelle des in vielen Jahrhunderten natürlich gewachsenen setzte. So erstellte er eine Landkarte, mit welcher er bei den Friedensverhandlungen in Saint-Germain den italienischen Charakter Südtirols beweisen wollte. Mehr als 8.000 Orten hatte er in kurzer Zeit eine andere Bezeichnung verpasst. Meist übersetzte er die bestehenden wörtlich ins Italienische oder orientierte sich an altrömischen Traditionen. Hauptsache, der Name klang italienisch! Auch die gebräuchlichsten Südtiroler Familiennamen brachte er in den dreißiger Jahren in eine italienisch klingende Form. Selbst vor Grabsteinen machte er nicht halt: Josef wurde zu Giuseppe, Franz zu Francesco, Helene zu Elena und so fort. Wer sich Brunner schrieb, hieß plötzlich Fontana.

Damit traf er das Innerste der Menschen, ihr Selbstbewusstsein und Selbstverständnis. Mit dieser Vergewaltigung sollte ein in Wirklichkeit nicht vorhandener ethnischer und siedlungsgeschichtlicher Anspruch Italiens auf Südtirol vorgetäuscht werden. Vor Italiens Kriegseintritt im Mai 1915 hatte Tolomei den größten Teil der Orts- und Flurnamen Südtirols italianisiert. Die Faschisten machten bald nach Kriegsende seine Pläne zu ihrem politischen Programm. Als im November 1918, nach dem Waffenstillstand, italienische Truppen kampflos in Bozen einmarschierten, jubelte Tolomei: „Bozen ist besetzt. Südtirol ist unser. Das Unwahrscheinliche ist Wirklichkeit geworden.“ Österreich hatte sofort nach Verkündung des Waffenstillstands alle Kampfhandlungen eingestellt, während Italien die Waffen erst 24 Stunden später niederlegte. Italien hat in diesen 24 Stunden den größten Teil der bisherigen österreichischen Armee gefangen genommen. Die Geschichte berichtet von über 350.000 Mann. Italien bezeichnete das als Sieg! Die italienischen Truppen marschierten im November 1918 bis an die Nordtiroler Land­eck weiter, ohne auf Gegenwehr zu stoßen.

So besetzte Italien Tirol.

Gekommen um zu bleiben!

Entgegen der ersten Annahme, es handle sich um ein kurzes Zwischenspiel italienischer Truppen, zeigte sich sehr bald, dass die Italiener zur dauerhaften Besetzung, zur Einverleibung des Landes, entschlossen waren. Der italienische Armeekommandant ließ in jedem Ort und jedem Weiler Kundmachungen folgenden Inhalts anbringen: „Italien, die große und geeinigte Nation, in welcher volle Freiheit des Gedankens und des Wortes herrscht, will den Mitbürgern der anderen Sprache die Erhaltung der eigenen Schulen, der eigenen Einrichtungen und Vereine zugestehen …“ Auch der italienische König Viktor Emanuel verkündete, er werde die lokalen Institutionen, die Selbstverwaltung und die lokalen Sitten wahren. Das erwies sich als der reinste Hohn.

Die einheimischen Verwaltungsbehörden wurden sofort in italienische Zivilkommissariate umgewandelt und die österreichische Gendarmerie durch italienische Carabinieri ersetzt. Der nach dem Waffenstillstand gebildete Südtiroler Nationalrat wurde verboten und Südtirol mit dem italienischen Trentino zur Provinz „Venezia Tridentina“ zusammengeschlossen. Der Club Alpino Italiano bemächtigte sich der meisten Alpenvereinshütten und des übrigen Besitzes des Deutschen und des Österreichischen Alpenvereins in Südtirol. Tolomei konnte unverzüglich mit der Durchführung seines Italianisierungsprogramms beginnen, noch bevor Südtirol rechtlich Italien zugesprochen worden war. Die Bevölkerung selbst in entlegenen Orten und Tälern bekam die „sorgfältige und liebevolle“ Behandlung durch die neuen Machthaber bald zu spüren. Auch in Walten und im Passeiertal war man besorgt und beunruhigt über die Zukunft unter fremder Herrschaft. Das offizielle Tirol unternahm auf friedlichem Weg alles, um die Festschreibung des sich abzeichnenden Unrechts abzuwenden.

Fortsetzung folgt…

Der obige Auszug stammt aus dem Buch „Georg Klotz – Freiheitskämpfer für die Einheit Tirols“, der Biografie von Dr. Eva Klotz über ihren Vater.

Klotz, Eva: Georg Klotz. Freiheitskämpfer für die Einheit Tirols. Eine Biografie. Wien: Molden. 2002. ISBN: 3-85485-083-2

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