von gk 11.10.2024 11:29 Uhr

Verborgenes Heldentum: Wie zwei mutige Tiroler eine Marienstatue vor den Nazis retteten

In den Wirren des Zweiten Weltkriegs riskieren zwei mutige Männer ihr Leben, um eine wertvolle Marienfigur aus der Kirche in Waldrast vor der Gestapo zu schützen. Mit Unterstützung der Familie und unter höchster Geheimhaltung schmuggeln sie die Madonna von Tirol bis an den Niederrhein. Diese bewegende Geschichte erzählt von Mut, Glauben und einer gefährlichen Odyssee, die heute kaum jemand kennt.

Im Gedenken an die zwei widerständigen, mutigen Männer (Bild: Chr. Rosenkranz).

Der vierte und letzte Teil dieser Zeitzeugenreihe von Christian Rosenkranz (Teil 1 findest du hier, Teil 2 hier und Teil 3 hier) führt uns wieder ins Wipptal an den “Glasnhof”.

Nicht einmal die sich im “Glasnhof” einfindenden Theologen wussten von dem Vorhaben, das Sepps Bruder Franz Mair und Hans Madersbacher in der Nacht von Donnerstag auf Freitag ausführten – das Gnadenbild der Mutter Gottes, eine 66 cm hohe bekrönte Lindenholzfigur einer sitzenden Madonna, die dem Jesuskind einen Apfel reicht – von der Waldrast aus der versperrten Kirche zu entwenden und somit vor dem Zugriff der Gestapo in Sicherheit zu bringen. Allerdings waren, so Gottfried Mair, sehr wohl dessen Eltern Maria und Sepp, Tante Paula und – wenig überraschend – Rusch eingeweiht. Er war mit der Aktion einverstanden. An der rechten Seitenwand des Kirchenschiffs halten zwei Fotos zu beiden Seiten einer Skulptur des Hl. Christophorus, eines 1956 von Josef Staud aus Steinach angefertigten Werks, die Erinnerung an die zwei im Krieg gefallenen „Haudegen“ wach.

Ohne dass ihnen die Entwendung des Gnadenbildes hätte nachgewiesen werden können, waren beide in den letzten Apriltagen in Untersuchungshaft, bevor sie zur Wehrmacht einberufen wurden und anno 1945 fielen: Madersbacher (*1920), dessen Schwester Leni Vorbeterin beim Gang von Matrei auf die Waldrast war, bei Colmar im Elsass; Mair (*1921) bei Paris. Auf der Waldrast mussten beide vor dem Einstieg durch das linke Seitenfenster der Schmerzenskapelle lange zuwarten, da im nahegelegenen Stall des Wirtschaftsgebäudes Licht war und sie befürchteten, dass sie ertappt würden. Um Lärm zu vermeiden, nahmen sie im Zuge des Einbruchs ein mit Pech beschmiertes Tuch, mit dem sie geräuschlos die Scheibe eindrücken konnten. Zuhause war den Wartenden gar nicht wohl zumute, denn sie befürchteten, dass das Vorhaben nicht gelungen wäre. Deren Angst legte sich erst in den frühen Morgenstunden; der von den zwei Burschen benutzte Rucksack, aus dem der Kopf der Madonna herausragte, wurde sofort im Keller unterhalb der Wohnstube des Glasnhofs versteckt, bevor die Familie aufgrund der Gefahr einer Hausdurchsuchung im Acker hinter dem Haus ein zweites Versteck schuf.

  • Der Abgang der Treppe zum Versteck (Bild: Chr. Rosenkranz)
  • Die Stube des "Glasnhofes" und das Kruzifix (Bild: Chr. Rosenkranz).

Die Reise der Madonna an den Niederrhein

Im Auftrag des Bischofs wurde die Madonna durch Sepp Mairs guten Bekannten Alfons Brands an den Niederrhein gebracht. Laut Willy Sterzenbach, Autor des Artikels „Die Odyssee einer Muttergottesstatue“ in der Zeitschrift „Heimat zwischen Hunsrück und Eifel“ (50. Jahrgang, Nr. 8 – August 2002), übergab Brands nach einer längeren Bahnfahrt im rechts-rheinischen Neuwied seinen Koffer dem dortigen Telegraphendirektor Josef Grimmig und seiner Frau Mathilde, die zu jener Zeit in Andernach, dem Ort auf der anderen Seite des Rheins, wohnten. Das Versteck in Andernach schien einige Zeit später nicht mehr sicher genug; die Statue wurde im Pfarrhaus in Nachtsheim in der Eifel untergebracht. Als die Westfront näher rückte (Ende 1944 und Anfang 1945 gab es erste Bombenangriffe), stellte das Zementwerk Dyckerhoff in Neuwied einen bombensicheren Bunker für die Lagerung zur Verfügung. Nach dem Einmarsch der US-Truppen wurde die Statue auf den Altar der Krankenhauskapelle im Marienhaus Klinikum St. Elisabeth Neuwied gestellt.

Alfons Brands, 1902 in Koblenz geboren und 1982 in Andernach verstorben, muss auch „ein interessanter Typ“ gewesen sein. Von Oktober 1921 an war er zwei Jahre lang als Priesterkandidat der Diözese Trier im Collegium Canisianum; es waren etliche aus deutschen Landen stammende Studenten im Seminar. Sie kamen wegen des bereits in den frühen Jahren des letzten Jahrhunderts einsetzenden Kulturkampfes im Deutschen Reich und der jesuitisch geprägten Theologischen Fakultät. Diese galt als Garant für solide katholische Theologie. In der Diözese Trier etwa „war es üblich, dass die Seminaristen zwei Semester außerhalb Triers nach eigenem Wunsch studieren sollten. Innsbruck war immer bevorzugtes Ziel“, so der 90-jährige Hans Rumpf, ein in Andernach wohnhafter ehemaliger Architekt in einem an mich adressierten Brief. Brands wurde 1927 zum Priester geweiht. Er war als Jugendseelsorger und Kaplan in einer Gruppierung innerhalb des Katholischen Jungmännerverbandes engagiert, bis anno 1936 Massenverhaftungen katholischer Jugendführer erfolgten. „40 Geistliche und Laienführer des kernkatholischen Rheinlandes wurden verhaftet. […] Der einzige geistliche Jugendführer, der noch in Freiheit ist, ist Kaplan Alfons Brands“ (Kärntner Tagblatt, 18. Februar 1936). Zwischen 1939 und 1946 war Brands Seelsorger im oben genannten Spital – an dem Ort, wo er „heimlich Jungen- und Mädchengruppen gründete. Die Gruppenstunden fanden jedoch in seiner Privatwohnung statt“.

Die feierliche Rückkehr

Im Juni 1945 übergaben die Amerikaner den Franzosen die Verwaltung der linksrheinischen Gebiete. Als der französische Gouverneur vom wertvollen Kunstwerk erfuhr und dessen Transport in seine Heimat veranlasste, kam ihm eine junge couragierte Person zuvor: ein 1915 in Aachen geborener, wegen intensiver Jugendarbeit bereits dort sowie in Innsbruck inhaftierter, Seelsorger namens Karl Loven. Er war bis zu seinem Gauverweis Sekretär des wegen seiner mutigen NS-kritischen Predigten im Volksmund als „Löwe von Münster“ bekannten Kardinals Clemens August Graf von Galen. Loven, etliche Jahre hindurch Kaplan in der damals selbstständigen Gemeinde Kreith bei Mutters, wurde von Rusch um die Rückführung der Madonna gebeten, zumal er über den Verbleib des Gnadenbildes Bescheid wusste und die persönlichen Kontakte im niederrheinischen Gebiet hatte. Ein diesbezügliches Schreiben des bischöflichen Kanzlers ist mit dem 31. August 1945 datiert.

Was fehlte, war die Krone. Sie wurde, so Rumpf, im Neuwieder Bunker später gottlob entdeckt und die katholische Jugend Andernachs (170 Mädchen und Burschen) nahm sie anlässlich eines Zeltlagers (16.–29. August 1953) in Schöfens mit. Martha, seine spätere Frau, trug die Krone auf einem Kissen vom Lager zur Waldrast; er selbst schulterte das Christusbanner. Die Statue selbst wurde Buchgschwenter anvertraut. Er, der sakrale Großplastiken und Krippen aus Holz, aber auch aus Stein, Gips und Bronze schuf, besserte an ihr kleine Schäden aus, da sie die Wirren der Kriegsjahre nicht unbeschadet überstanden hatte. Zu Martini 1945 – Sonntag, den 11. November – zogen nach einer Messe in der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt Mitglieder der Abordnungen (Veteranenverein, Schützenkompanie und Musikkapelle) und ungemein viele festlich gekleidete Menschen in einer fast endlos langen Prozession zu ihrem Bestimmungsort. Die Predigt hielt Kolb, der wie viele andere „Widerständige“ von der Gestapo verhört und kurzzeitig inhaftiert worden war. Dieser Tag wurde zu einem großen Fest des Dankes für die wiedererlangte Freiheit, zu einem Zeichen der Renaissance katholischer Kirchlichkeit im Tirol nach den Wirren des Zweiten Weltkrieges. Möge die Waldrast weiterhin, wie sich Stecher einmal ausdrückte, „eine Tankstelle der Gnaden“ bleiben.

Von Christian Rosenkranz

  • Die beiden "Haudegen": li: Hans Madersbacher, re: Franz Mair (Bild: Chr. Rosenkranz).
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