von gk 23.09.2024 17:38 Uhr

Matrei am Brenner als Bühne widerständigen Geistes in der Nazizeit

In der kleinen Gemeinde Matrei am Brenner formierte sich in den dunklen Jahren des Nationalsozialismus ein mutiger Widerstand gegen die Diktatur. Von tief verwurzelter Freiheitsliebe und unerschütterlichem Glauben angetrieben, boten die Bewohner der Region den Nationalsozialisten die Stirn.

Schöfens 11, Haus der Familie Hilber (Foto: Chr. Rosenkranz).

Der dritte Teil unserer Zeitzeugenreihe (Teil 1 findest du hier, Teil 2 hier) führt uns ins Wipptal und erzählt die Geschichte von Menschen, die sich trotz Verfolgung und Repression nicht beugen ließen und mit riskanten Aktionen den Widerstandsgeist lebendig hielten.

Paul Hauser, ein Matreier „Urgestein“, baute mir Innsbrucker die Brücke ins Wipptal. Auf Schöfens 7/8, im „Glasnhof“, sind Rosmarie und Gottfried Mair zuhause. Gottfried – 1945 aufgrund der wiederholten Bombardierung Matreis im Krankenhaus Zams geboren – ist Sohn der Maria und des Josef „Sepp“ Mair, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zum Verwalter des Bildungshauses St. Michael (Schöfens 12, Matrei am Brenner) bestellt wurde. Paula Kraft, Tochter des Bauherrn der Pension „Kraft“ – vor dem Ersten Weltkrieg Ziel von betuchten Gästen – übernahm Jahre zuvor mit ihrem Gatten, dem aus Glurns stammenden Mediziner Hermann Flora, das Haus. Sie waren Freunde der Familie Stecher. Heinrich – er war Landesschulinspektor für Tirol – hatte ebenso Wurzeln im Vinschgau; er entstammte einer Bergbauernfamilie in St. Valentin auf der Haide. Wiederholt verbrachte er mit seiner Rosina und den drei Kindern die Sommerferien in der Pension Kraft. Paul Flora, der meisterhafte Zeichner und Karikaturist, und Reinhold Stecher, der begnadete Aquarellist, kannten sich von Kindesbeinen an. Die stark belastende wirtschaftliche und soziale Situation in den 1930er-Jahren veranlasste die Floras, ihren Besitz – das Gästehaus sowie eine Hofstelle – 1939 abzutreten. Die Aufhebung des internationalen theologischen Kollegs „Collegium Canisianum“, des Männerheims für die Priesteramtskandidaten der Apostolischen Administratur und der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck durch die Gestapo war der Familie bekannt. Paulus Rusch, seit 1938 Apostolischer Administrator und Titularbischof von Lykopolis, wurde eingeladen, das Anwesen zu übernehmen und für die Studenten des Männerheims einzurichten.

Wirksam wurde dieser Deal unter anderem durch das engagierte Vorgehen Ruschs, der 1933 als 29-jähriger zum Priester geweiht wurde und wenige Jahre später – anno 1936 – bereits als Regens des Männerheims wirkte. Zu seinem Alltag gehörten unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten Hausdurchsuchungen und Brandanschläge. Rusch hoffte, er könne den neuen Machthabern die Stirn bieten; er versuchte zwar alles Mögliche, um den Studienbetrieb aufrechtzuerhalten, doch ihm war bewusst, dass dem Canisianum und dem Männerheim die Schließung bevorstand. Nur wenige Monate nach dem Aufbruch von Innsbruck – am 25. Mai 1940 – wurden die Priesteramtskandidaten Zeugen der Beschlagnahme ihrer Bleibe in Schöfens. Laut Stecher („Erinnerungsprotokoll Fall Waldrast 1941“, 1979) und Ladurner (Ausgabe von Stechers Erinnerungen an Diktatur und Krieg, 2018) mussten sie – unter ihnen Heinz Schramm, Hermann Lugger, Leo Gutmann und Georg Schuchter – das Haus innerhalb weniger Stunden räumen. „Unvergesslich“ blieb Stecher „die mutige Gastfreundschaft der Bevölkerung“, die die Theologiestudenten sofort aufnahm und gut versorgte.

Ein Quartier war der „Kircherhof“ / Schöfens 11, in dem Stecher bei Anna, Josef Hilbers Witwe, untergebracht war. Sie, eine geborene Kinzner vom „Riedhof“ / Mützens 13, war einige Zeit Kellnerin in dem von den Serviten geführten Gasthof „Maria Waldrast“. Wie mir Norbert Hilber erzählte, war seine Oma, als sie in den 1980er-Jahren Bischof Reinhold als Gast hatte, während des längeren, beide Personen recht bewegenden „Hoangarts“, körperlich, geistig und seelisch „gut drauf“. Schuchter wurde mit Gutmann von Sepp Mairs Familie aufgenommen. Die Vorlesungen fanden zumeist auf der von Rundpfeilern getragenen Empore der zu Beginn des 16. Jahrhunderts errichteten Johanneskapelle statt. Am Aufgang zum denkmalgeschützten Ensemble des Friedhofs ist Franz Kolb ein Denkmal in Form einer Büste gewidmet; das in Bronze gegossene Brustbild schuf der Matreier Bildhauer Hans Buchgschwenter. Kolb, ein 1886 geborenes Pfarrkind vom Bauernhof zum „Bliamen“ / Außerweg 27 in Navis und ab 1909 Weltpriester, lehrte von 1939 bis 1941 für die Priesteramtskandidaten Kirchengeschichte. Wie seine Professorenkollegen fand er sich mit den Studenten zu gemeinsamem Essen im Gasthof in unmittelbarer Nähe der Johanneskapelle, dem „Gasthof zur Brücke“, ein. Die Prüfungen wurden in verschiedenen Matreier Wirtshäusern, in denen die Lehrenden untergebracht waren, abgehalten. Die Solidarität der einheimischen Bevölkerung von Schöfens, Matrei, Mühlbachl und Navis mit den Studierenden und Lehrenden dürfte den Machhabern äußerst zuwider gewesen sein, sodass diese gute Zeit nicht lange hielt. Im Herbst 1940 war das Männerheim Gast der Diözese Gurk-Klagenfurt in St. Georgen am Längsee.

Diffamierung der Katholiken durch die Gestapo

Zurück zu Franz Kolb: Er war eine sehr dynamische Persönlichkeit – eine Drehscheibe, die nicht nur im Wipptal segensreich wirkte. Als bedeutend erachte ich sein engagiertes Eintreten für die katholischen Arbeitervereine – ein Fakt, der ihn mit dem um 18 Jahre jüngeren Seelsorger Paulus Rusch aufs Engste verband. Geprägt wurde Rusch in seinen Lehrjahren in Hohenems durch die Nähe zur Arbeiterschaft; mit sozialen Einsätzen trat er stark ins Rampenlicht. In der Gestaltung der Liturgie stand er an der vordersten Front; er verkörperte geistigen Aufbruch und ungebrochenes Engagement für eine standhaft bleibende katholische Kirche. Vor allem für die damalige katholische Jugend war Rusch ein Signal und Hoffnungsträger gleichermaßen. Seine Haltung galt ihr als Richtpunkt in vielen persönlichen Entscheidungen. Wann immer er in Feierstunden zur Jugend sprach, war der jetzige Dom zum Bersten voll, obwohl Gestapomitglieder ganz unverhohlen im hinteren Bereich des Gotteshauses ihre Notizen machten und Messenfeiernde schriftlich festhielten.

Gauleiter Franz Hofers Traum war ein kirchenloser Gau; er gab die Kirche Tirols der Hetzjagd preis, zumal die Ernennung Ruschs zum Titularbischof ohne Verständigung der nationalsozialistischen Behörden durchgeführt worden war. Rusch wurde nie verhaftet, da Hofer hierfür bei den Berliner Behörden keinen Rückhalt hatte – sehr wohl aber bei der Schließung vieler Klöster und Kirchen, Verhaftungen und Verurteilungen von Seelsorgern und der Kirche nahestehender Personen zu längeren Freiheitsstrafen sowie deren Einberufungen in den Militärdienst und Deportationen in Konzentrationslager.

Protest gegen die Hetzjagd der Gestapo

Sepp Mair etwa, 1909 geboren, von Beruf Jurist, wurde als aktiver Jugendführer bereits 1938 von seinem Posten beim Handels- und Gewerbeverband Imst durch die Nazis entlassen und dann von Rusch zum Diözesanführer der Katholischen Jugend bestellt. Als solcher war er in Tirol einer der am meisten verfolgten Laien im kirchlichen Dienst. Am Mittwoch nach dem Ostersonntag – am 16. April 1941 – trafen bei ihm und seiner Familie Lugger, Stecher und Schuchter (siehe Helmut Tschols „Erlebnisse Georg Schuchters in der Nazizeit“) zu einem Besuch ein. Beim Karfreitagsgottesdienst im Dom erfuhr der trotz seines noch nicht beendeten Studiums zum Priester ernannte Schuchter von der Aufhebung des Servitenklosters auf der Waldrast sowie der Sperre der Wallfahrtskirche: Am 8. April erschien die Gestapo, um das Gebäude und Inventar zu beschlagnahmen, und vor dem Abschied versammelten sich die des Klosters verwiesenen Serviten noch einmal im Gotteshaus und sangen das „Te Deum“ und „Salve Regina“, worauf die Kirche gesperrt wurde. Zurück zum Besuch: Es wurde auch besprochen, ob sie nicht am Weißen Sonntag, der in jenem Jahr auf Adolf Hitlers Geburtstag fiel, eine Protestwallfahrt zur geschlossenen Wallfahrtskirche organisieren könnten. Unter den Theologen, jungen Priestern und kirchlich gesinnten Jugendlichen Tirols war die Stimmung derart, dass sie sich das angesichts der zahlreichen Schikanen nicht mehr gefallen lassen sollten. Die „vor Zorn in den Hosensäcken geballten Fäuste“ sollten in offenem Widerstand sichtbar werden und den Trägern des Naziregimes zeigen, dass sie an eine Grenze ihres kirchenfeindlichen Vorgehens stießen. Fest entschlossen, in ihrem Bekanntenkreis für die Aktion zu werben, fuhren die „Widerständigen“ mit dem Fahrrad wieder heim – Schuchter nach Schönberg und Mieders, wo er als Kooperator bereits etliche Monate lang Jugendliche betreut hatte. Er selbst und die anderen Organisatoren nahmen nicht am denkwürdigen Protest teil, sehr wohl kamen aber etliche Gruppen von Matrei, Schönberg und Mieders zur Waldrast. Einer in der Schönberger Gruppe war der Veitenbauer von Matreiwald 22, Georg Hofer. Er hatte, so erzählte mir seine Schwiegertochter Hanni, eine kräftige Stimme und war als Vorbeter bestens geeignet. Nicht nur vor der versperrten Kirche, auch in vielen Häusern der umliegenden Orte kam es zu Verhören der Gestapo, die zur Aufdeckung des Theologenkreises führte. Die Gestapo war gereizt und aggressiv; in jenen Tagen war sie auch mit der Untersuchung eines zuvor erfolgten Einbruchs beschäftigt.

Christian Rosenkranz

Fortsetzung folgt

 

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