von red 22.09.2024 17:00 Uhr

Mehr als Trient und Triest – Die Geschichte des italienischen Irredentismus

Der italienische Irredentismus war eine nationalistische Bewegung, die aus dem 19. Jahrhundert hervorging und darauf abzielte, alle Gebiete, die als historisch, kulturell oder sprachlich mit Italien verbunden betrachtet wurden, in das Königreich Italien zu integrieren. Der Begriff „Irredentismus“ leitet sich vom lateinischen „irredenta“ ab, was „unerlöst“ bedeutet, und spiegelte die Überzeugung der Anhänger wider, dass Teile Italiens unter fremder Herrschaft standen und in den italienischen Staat integriert werden sollten, um die nationale Einheit vollständig zu realisieren. Diese Bewegung spielte eine bedeutende Rolle in der italienischen Politik bis zum Ersten Weltkrieg und darüber hinaus, als sie nach dem Krieg von faschistischen Bewegungen aufgegriffen und instrumentalisiert wurde.

Eine italo-patriotische Karte (Propaganda)

Ursprung und Ideologie des Irredentismus

Der Irredentismus entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Italien im Zuge der Risorgimento-Bewegung 1861 weitgehend geeint wurde. Dennoch blieben einige Gebiete, die von den Irredentisten als „italienisch“ angesehen wurden, außerhalb der Grenzen des neuen italienischen Staates. Diese Regionen waren besonders in den Randgebieten des Königreichs zu finden und beinhalteten Gebiete wie Welschtirol (Trentino)-Südtirol, Istrien, Triest, Görz (Gorizia) sowie Teile der dalmatinischen Küste, die unter der Kontrolle des Habsburgerreiches standen. Einige radikalere Irredentisten erhoben zudem Anspruch auf Gebiete wie Nizza und Savoyen im heutigen Frankreich sowie auf Korsika, Malta und das Tessin in der Schweiz. Diese extremen Forderungen verdeutlichten die tief verwurzelte Überzeugung, dass Italien geografisch und historisch unvollständig sei.

Irredentisten argumentierten, dass diese Gebiete aufgrund ihrer historischen Verbindung zum Römischen Reich, ihrer kulturellen Nähe oder ihrer italienischen Sprache Teil Italiens sein sollten. Die kulturelle und ethnische Zugehörigkeit der Bevölkerung spielte dabei eine zentrale Rolle. Besonders die italienischsprachigen Minderheiten in den österreichischen Gebieten standen im Fokus der Bewegung, da sie als „italienische Brüder“ unter fremder Herrschaft angesehen wurden. Dieser nationalistische Gedanke war eng mit dem Konzept des Selbstbestimmungsrechts der Völker verbunden, das im 19. Jahrhundert durch den Aufstieg nationalistischer Bewegungen in Europa gefördert wurde.

Politische Entwicklung und Einfluss vor 1915

Die Unterstützung für den Irredentismus innerhalb Italiens und der von Italien beanspruchten Gebiete war vor 1915 jedoch uneinheitlich. Obwohl die Bewegung von nationalistischen Intellektuellen und Politikern angeführt wurde, blieb die Unterstützung der breiten Bevölkerung begrenzt. Eine der Herausforderungen für die Irredentisten war die Spannung zwischen den nationalen Bestrebungen und der katholischen Kirche. Viele der prominenten Verfechter des Irredentismus, wie der Dichter Gabriele D’Annunzio (1863–1938), standen in offenem Konflikt mit dem Vatikan, der selbst ein zentraler politischer Akteur im jungen italienischen Nationalstaat war. Diese anti-klerikale Haltung schwächte die Fähigkeit der Bewegung, eine breitere Anhängerschaft unter den stark katholischen italienischen Bürgern zu mobilisieren.

Darüber hinaus zeigte die italienische Regierung unter König Viktor Emanuel II. und seinen Nachfolgern nur begrenztes Interesse am Irredentismus, insbesondere in den 1880er Jahren, als der Fokus zunehmend auf der Kolonialexpansion lag, insbesondere in Afrika. Die Eroberung Eritreas und späteren Ambitionen in Libyen und Äthiopien lenkten die Aufmerksamkeit von den Ansprüchen der Irredentisten ab, die als innenpolitisch kompliziert und diplomatisch riskant galten, da sie einen Konflikt mit dem mächtigen Habsburgerreich provozieren könnten.

Eine der wenigen bedeutenden irredentistischen Organisationen, die zu dieser Zeit existierte, war die Lega Nazionale, die 1891 in den von Österreich kontrollierten Städten Trient und Triest gegründet wurde. Die Lega vereinte moderate Nationalisten, die eine größere kulturelle und politische Autonomie innerhalb des Habsburgerreichs forderten, mit den radikalen Irredentisten, die die vollständige Integration dieser Regionen in Italien forderten. Trotz ihrer Bemühungen blieb der Irredentismus vor dem Ersten Weltkrieg eine relativ marginale politische Kraft.

Irredentismus und Italiens Beteiligung am Ersten Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg bot jedoch eine neue Gelegenheit für die Irredentisten, ihre Ziele zu verfolgen. Nach dem Ausbruch des Krieges im Jahr 1914 blieb Italien zunächst neutral, obwohl es formell Teil des Dreibunds mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn war. Innerhalb Italiens gab es jedoch starke Debatten darüber, ob das Land sich dem Krieg anschließen sollte, und wenn ja, auf welcher Seite.

Die Irredentisten sahen im Krieg eine Chance, die „unerlösten“ Gebiete von der österreichischen Herrschaft zu befreien. Pro-interventionistische Gruppen nutzten den Irredentismus als Argument, um Italien in den Krieg auf der Seite der Entente (Frankreich, Großbritannien, Russland) zu positionieren. Sie argumentierten, dass ein Sieg über Österreich-Ungarn es ermöglichen würde, die italienischen Gebiete in Trient, Triest und anderen Regionen zu erlangen. Diese Bestrebungen wurden im Londoner Vertrag von 1915 offiziell anerkannt, in dem Italien versprochen wurde, im Falle eines Sieges Gebiete wie Südtirol, Istrien und Teile der dalmatinischen Küste zu erhalten.

Dies führte dazu, dass Italien im Mai 1915 in den Krieg eintrat, was von den Irredentisten als großer Sieg gefeiert wurde. Allerdings waren die Erwartungen hoch, und der Krieg brachte enorme Verluste für Italien. Der Konflikt an der Isonzo-Front war besonders blutig und zermürbend, und das Ziel, die italienischsprachigen Gebiete zu „befreien“, geriet zunehmend in den Hintergrund, als der Krieg sich in eine Pattsituation verwandelte.

Irredentismus während des Krieges und die Habsburger Reaktion

Auf der anderen Seite sahen die Habsburger in den italienischen Gebieten einen wachsenden irredentistischen Einfluss, was zu scharfen Reaktionen führte. Nach Italiens Kriegseintritt 1915 ergriffen die österreichisch-ungarischen Behörden harte Maßnahmen gegen die italienischsprachige Bevölkerung in Gebieten wie Trient und Triest. Zehntausende von Italienern wurden in das österreichische und ungarische Hinterland deportiert, und viele wurden als potenzielle politische Gegner interniert. Die habsburgische Führung sah in jedem Ausdruck italienischen Nationalismus eine Bedrohung für ihre Herrschaft und handelte dementsprechend repressiv.

Einer der berühmtesten Vorfälle dieser Repression war die Hinrichtung von Cesare Battisti, einem früheren Abgeordneten des Reichsrats und prominenten irredentistischen Politiker, der sich 1916 nach seiner Flucht nach Italien der italienischen Armee angeschlossen hatte. Battisti wurde während der Schlacht von Asiago gefangen genommen und in Trient öffentlich hingerichtet, was ihn zu einem Märtyrer für die Irredentisten machte und den Hass auf die habsburgische Herrschaft in den italienischsprachigen Gebieten verstärkte.

Nachkriegszeit und das Erbe des Irredentismus

Der Frieden von Saint-Germain 1919 und die nachfolgenden Verträge sicherten Italien schließlich große Gebiete, darunter Südtirol, Trient, Triest, Istrien und einige dalmatinische Inseln. Allerdings blieben einige Gebiete, die von den Irredentisten beansprucht wurden, wie Fiume (Rijeka) und Teile Dalmatiens, unter der Kontrolle des neugegründeten Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (später Jugoslawien). Diese „unvollständige“ territoriale Expansion führte zu dem Begriff des „verstümmelten Sieges“ (vittoria mutilata), der von nationalistischen und faschistischen Gruppen wie D’Annunzios verwendet wurde, um das Gefühl zu schüren, dass Italien trotz seines Sieges im Krieg betrogen worden sei.

Die italienische Regierung versuchte nach dem Krieg die „erlösten“ Gebiete durch aggressive Italianisierungskampagnen zu integrieren, was oft zur Unterdrückung der lokalen nicht-italienischen Bevölkerung führte. Vor allem unter der faschistischen Herrschaft Benito Mussolinis nach 1922 wurden diese Maßnahmen intensiviert. Der Irredentismus, der ursprünglich als progressiv und liberal galt, wurde nun von autoritären und extrem nationalistischen Kräften vereinnahmt, was viele der ursprünglichen Verfechter der Bewegung entfremdete.

Insgesamt war der italienische Irredentismus eine komplexe Bewegung, die sowohl von nationalistischen Idealen als auch von pragmatischen politischen Zielen geprägt war. Er spielte eine entscheidende Rolle bei der Ausweitung der italienischen Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg, hatte aber auch tiefgreifende Auswirkungen auf die politische und soziale Struktur der betroffenen Gebiete in der Nachkriegszeit.

von Andreas Raffeiner

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