von red 30.06.2024 19:26 Uhr

Philosoph Karl Mittermaier im UT24-Gespräch: Die Revolution der Aufklärung blieb unvollendet

Vor 300 Jahren kam der Philosoph Immanuel Kant zur Welt. Im UT24-Interview beleuchtet der Brixner Philosoph Karl Mittermaier die Aufklärung. Darüber hinaus diskutiert er die Bedeutung der Vernunft, die Grenzen des Wissens und die Auswirkungen auf die moderne Gesellschaft und Wissenschaft.

Karl Mittermaier - Foto: privat

UnserTirol24: Herr Mittermaier, der große Philosoph und Aufklärer kam vor 300 Jahren auf die Welt. Wie würden Sie die philosophische Bewegung der Aufklärung definieren und welche Hauptziele verfolgte sie?

Karl Mittermaier: Ich darf zunächst erinnern, dass die Aufklärung, die Sie im Kontext zu Kant meinen, nicht etwas völlig Neues war. Aufklärungen im geistigen Sinne, angewandt auf den Menschen, gab es bereits in der griechischen Antike. Meinte Kant, dass der Mensch sich seines eigenen Verstandes bedienen solle, dass er das sei, was er sein wolle, so beabsichtigte schon Sokrates ähnliches. Er sprach auf der Agora in Athen geradezu willkürlich Leute an und stellte ihnen Fragen über Fragen, die sie selbst beantworten sollten. Dadurch reflektierten sie über alles Mögliche. Auch sie sollten sich ihres eigenen Verstandes bedienen und dadurch selbstständig werden.

UT24: Welche Rolle spielt die Vernunft in der Aufklärung, und wie wird sie gegen andere Erkenntnisquellen wie Tradition und Autorität abgegrenzt?

Mittermaier: Laut Kant hätte der Mensch sich durch die Vernunft von jeglicher Abhängigkeit lösen müssen. Nun ist es aber gekommen, dass der Mensch zusehends mehr sich selbst abschafft. Er beherrscht die von ihm geschaffenen Geräte nicht mehr; er bedient sie bloß. Er verurteilte den Krieg (Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß es: „Nie wieder Krieg!“), war aber auch darin nicht erfolgreich, was einmal mehr bezeugt, dass es keinem Philosophen gelang, die Menschen von Kriegen abzuhalten, womit der Sinnspruch Heraklits (um 520 – um 460 v. Chr.), wonach der Krieg der Vater aller Dinge sei, nichts an Aktualität eingebüßt hat. Traditionen und Autoritäten sind im Geiste der Aufklärung kritisch zu hinterfragen und werden, sind sie vernunftwidrig, abgelehnt.

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UT24: Wie unterscheidet die Aufklärung zwischen Glauben und Wissen, und welche Bedeutung hat dieser Unterschied für die Entwicklung der modernen Wissenschaft?

Mittermaier: Glauben und Wissen sind zwei verschiedene Ansätze, die sich ad hoc grundsätzlich unterscheiden. Trotzdem muss weiter danach gesucht werden, beide zu kongruieren. Die moderne Wissenschaft, gehen wir zum Beispiel von Francis Bacon aus, hat sich vom Einfluss des Glaubens gelöst. Allerdings will sie auch mit der Metaphysik nichts mehr zu tun haben.

Die Aufklärung hat viele Menschen, wenigstens eine Zeit lang, wesentlich beeinflusst, was maßgebliche Folgen mit sich brachte. Sie ist neben der Renaissance, der Französischen Revolution und der Emanzipation der Frau eine der vier großen Zäsuren in der Geschichte des Abendlandes.

Philosoph Karl Mittermaier

UT24: Was hat die Aufklärung gebracht?

Mittermaier: Die Aufklärung hat viele Menschen, wenigstens eine Zeit lang, wesentlich beeinflusst, was maßgebliche Folgen mit sich brachte. Sie ist neben der Renaissance, der Französischen Revolution und der Emanzipation der Frau eine der vier großen Zäsuren in der Geschichte des Abendlandes. Ohne sie, und das kann man gelassen sagen, ohne ein Fatalist oder Wahrsager zu sein, wäre unsere Welt eine andere.

Allerdings ging ihre Rechnung nicht auf, weil der Mensch stets wieder in die alten Fehler zurückfällt, was vor allem dem in ihm innewohnenden Machttrieb geschuldet ist. Und wer heute meint, die Aufklärung sei nicht abgeschlossen, sie dauere noch an, hat das richtig erkannt, wenn er auch nicht eingesteht, dass sie nie abgeschlossen sein kann. Aus diesem Zustand der Ratlosigkeit muss er sich erst einmal befreien!

In Wirklichkeit sei die Wirklichkeit eine ganz andere Wirklichkeit.

Philosoph Karl Mittermaier

UT24: Noch einmal zu Kant: Wie sah er den Menschen? Wie sah er die Inhalte des religiösen Glaubens?

Mittermaier: Kant zählt ohne Zweifel zu den ganz Großen der Philosophie. Der bedeutendste deutsche Philosoph ist es ohnehin, auch der namhafteste deutsche Aufklärer. Der grundsätzliche Ausgang seiner Erkenntnis geht davon aus, dass der menschliche Verstand ohne die Anschauung durch die Sinne nichts erkennen könne. Die Wirklichkeit, die er erkennt, ist seine Wirklichkeit. In Wirklichkeit sei die Wirklichkeit eine ganz andere Wirklichkeit. Seine vier Fragen markieren die Philosophiegeschichte:

„Was kann ich wissen?“

„Was soll ich tun?“

„Was darf ich hoffen?“

„Was ist der Mensch?“

Der Mensch sei das, was er aus sich macht, meint Kant und spielt auf das Gewissen der Aufklärung an; dass nämlich er die Verantwortung dafür trägt, was aus ihm wird. Bei der Frage nach dem Wissensmaß zielt er auf die Grenzen des Wissens ab. Bei der Frage, was der Mensch tun solle, setzt er das Individuum in den Kontext des Kategorischen Imperativs. Die Frage nach dem Inhalt des Hoffens mündet in die Religion, in der Kant einen konkreten Inhalt nicht finden kann, denn, wie er schreibt, übertrete der religiöse Glaube die Grenzen der Vernunft. Deshalb seien Unsterblichkeit der Seele oder Gott als überirdisches Sein keine Fragen der Philosophie, sondern des religiösen Glaubens.

UT24: Wie veränderte die Aufklärung die Gesellschaft?

Mittermaier: Die Aufklärung bedeutete von vornherein einen empfindlichen Machtverlust für all jene, die bis dahin besessen, bestimmt, regiert, angeklagt und gerichtet hatten. Ihr Widerstand ist aus dieser Sicht durch und durch verständlich, denn wer verzichtet schon freiwillig auf den hohen Status und Macht!

UT24: Welche Bedeutung hatte die Aufklärung für das Konzept der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung?

Mittermaier: Wen die Aufklärung beeindruckte, der nahm sich jedenfalls anders wahr und erkannte, dass der Ankläger zuweilen auch der Schuldige sein kann. Denn wer andere beschuldigt, beschuldigt sich nicht selten selbst. Er fühlte sich zwar anders, ob das besser war, bleibt dahingestellt. Wer einen Blick auf die folgenden zwei Jahrhunderte wirft, weiß, dass Hierarchien zerbrachen, gleichzeitig aber neue entstanden. Unterschichten blieben, ebenso Mittelschichten, auch Oberschichten. Ihre Besetzung änderte sich.

Der größte Widerstand gegen die Aufklärung ging von der Kirche aus.

Philosoph Karl Mittermaier

UT24: Wie wurde die Aufklärung rezipiert? Gab es Widerstände?

Mittermaier: Die Aufklärer wollten Licht in das Dunkel der geschundenen Menschheit bringen. Es sollte den Menschen, vor allem den materiell und religiös von Vorgesetzten abhängigen, besser gehen. Es konnte ihnen aber nur besser gehen, wenn die Obrigkeit es gestattete, oder wenn die Geschundenen selbst es lautstark, wenn nötig auch mit Gewalt, forderten. Die Deutschen, gemeint sind die Eliten, hatten von Anfang an keine gute Meinung von dieser geistigen Bewegung. Sie vermuteten zu Recht, dass es um ihre Hierarchie in der Gesellschaft ging. Sie fürchteten um ihr Selbstverständnis.

In Frankreich oder auch England war die Stimmung viel aufgeschlossener. Die deutsche Obrigkeit wusste sich lange Zeit in ihrer dominanten Haltung zu verschanzen und das Gedankengut der Aufklärer entsprechend zu verunglimpfen. Gleichzeitig ging reichlich Skepsis um bezüglich den anstehenden und vorauszuahnenden Neuerungen in der Technik.

Was aber besonders bedrückte, war die Angst vor zu großen freiheitlichen Forderungen, was wiederum einen Niedergang der besitzenden und herrschenden Eliten bedeutete. Der größte Widerstand gegen die Aufklärung ging von der Kirche aus. Sie hatte es schnell begriffen, dass der blinde Glaubensgehorsam auf dem Spiel stand, denn als Vernunftreligion würde sie vor ganz anderen Herausforderungen mit einer völlig neuen Sicht stehen.

Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele stand auf dem Spiel. Bei vielen Aufklärern war die antireligiöse Haltung förmlich spürbar, zu offenkundig entwerteten sie die herrschende Dominanz der Glaubensdogmen, zu sehr glorifizieren sie die Vernunft als einzigen wahren Sinn des Menschen, die zum neuen Glauben verklärt wurde.

UT24: Inwieweit hat die Aufklärung zur Säkularisierung der westlichen Gesellschaften beigetragen, und welche Folgen hatte das für das Verhältnis von Kirche und Staat?

Mittermaier: In der Summe wollte die Aufklärung die Trennung von Politik und Religion. Das Fanal für den Kulturkampf war gelegt, aber auch einen solchen hat es schon gegeben. Denken wir zum Beispiel an die Renaissance, und zwar an Machiavelli, Guicciardini oder Giannotti.

UT24: Ist der Mensch durch die Aufklärung ein anderer geworden?

Mittermaier: Die Aufklärer, voran Immanuel Kant, Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing, hatten in ihrem grenzenlosen Idealismus geglaubt, den Menschen in seinen Grundzügen verändern zu können. Gewiss, im Umgang mit Menschen, im Respekt untereinander, in der Achtung füreinander, im Verhalten miteinander sind die Postulate und die Ausführungen dazu in gebildeten Kreisen mehr oder weniger angekommen.

Kants Wort vom „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und seine Ansicht, nicht in einem „aufgeklärten Zeitalter“, wohl aber in einem „Zeitalter der Aufklärung“ zu leben, sind aufklärerische Grundaussagen. Diese Definition, die zum Wahlspruch der Aufklärung wurde, ergänzt die Aufforderung: „Habe Mut, dich deines eigenen Versstandes zu bedienen!“ Damit erhob er die Vernunft zum Credo des aufgeklärten Menschen der Zukunft und überschätzte ihn damit maßlos.

UT24: Welche Kritikpunkte gab und gibt es an der Aufklärung, besonders aus religiöser Perspektive?

Mittermaier: Wie gesagt, beide waren nicht Freunde. Trotzdem bemühten sich manche Aufklärer um Harmonie. Ich erinnere an Lessings „Nathan der Weise“.

UT24: Welche Aspekte der Aufklärung sind Ihrer Meinung nach heute relevant im Dialog zwischen Glaube und Vernunft?

Mittermaier: Glaube und Vernunft sind zwei verschiedene Dispositionen. Beide haben ihre Berechtigung. Ist der Mensch aufgeklärt, wird er gut an der Seite der Religion leben können. Lehnt der Glaube die Vernunft nicht ab, kann er damit auch gut leben.

Ich denke, dass der Mensch auf dem besten Weg ist, ungewollt sein Ich und sein Selbst abzutreten, was fatale Folgen haben könnte.

Philosoph Karl Mittermaier

UT24: Wie haben Ihre persönlichen Überzeugungen und Ihr philosophischer Hintergrund Ihre Sicht auf die Aufklärung beeinflusst?

Mittermaier: Ich denke, dass der Mensch auf dem besten Weg ist, ungewollt sein Ich und sein Selbst abzutreten, was fatale Folgen haben könnte. Durch die stringente Anleitung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und der Vernunft größtmögliche Freiräume zu ebnen, hat er sich in eine Technik hineinmanövriert, von der er Schritt für Schritt abhängiger geworden ist. Er hat gewissermaßen freiwillig auf seine Freiheit verzichtet. Er ist dabei, völlig in die Abhängigkeit der von ihm entwickelten Technik zu geraten. Obwohl er das weiß, arbeitet er hurtig weiter an der Künstlichen Intelligenz und läuft dabei Gefahr, sich selbst abzuschaffen.

UT24: Vielen Dank für das Interview!

Das Interview führte Andreas Raffeiner

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